Ja zum Dogma!

Ratzingers Konservatismus verstärkt die Grenzen zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen. Darüber sollten sich seine Gegner freuen. von horst pankow

Die Wahl des neuen Papstes musste nicht nur für katholische Gemüter ein Ereignis sein, bei dem Irdisches und Überirdisches eine temporäre Symbiose eingehen. Auch wer der Aufklärung in skeptischer Zuneigung verbunden ist, durfte sich angesichts des von TV-Stationen bis in die geschütztesten Räume der weltweiten Kommunikationsgesellschaft, die hermetisch gesicherten linken Parallelwelten, live übertragenen Events durchaus mal Absencen surrealen Inhalts leisten.

Mir jedenfalls drängte sich, als der frisch gekürte Stellvertreter des katholischen Gottes auf Erden die Loggia des Petersdomes betrat, die Vision auf, es handele sich um Klaus Kinski. Zum hellen Haarschopf des farbenprächtig Kostümierten, der da gemächlichen Schrittes die Bildschirmfläche durchmaß, schien mir zunächst kein anderes Gesicht vorstellbar als das des genialen Exzentrikers, der in »Aguirre, der Zorn Gottes« seinen erschöpften Konquistadoren-Kameraden die denkwürdige Durchhaltelosung aufgibt: »Wir werden Geschichte machen, wie andere Theaterstücke schreiben.« Wo sonst als im postmodernen Vatikan, ging es mir durch den Kopf, würde diese fanatische Entschlossenheit und abgeklärte Einsicht vereinigende Maxime noch als Anregung würdiger Inszenierungen taugen?

Doch Klaus Kinski ist seit Jahren tot, und nach dem Wechsel der Kameraeinstellung von der Totalen in die Nahaufnahme erschien statt Kinskis von grandiosen Leidenschaften und vergeblichen Grübeleien zerfurchten Antlitzes das Antlitz des auf seine Weise originellen Joseph Ratzinger. Und diese Erscheinung war überhaupt nicht enttäuschend.

Denn mit Ratzinger ist einer der in Deutschland bislang am meisten verabscheuten Deutschen Papst geworden. Das mag bezweifeln, wer etwa die Herz-Jesu-Prosa der FAZ für die authentische Stimme der demokratischen Volksgemeinschaft hält, oder wem angesichts der Bild-Schlagzeile »Wir sind Papst!« ein sehr nachvollziehbarer Schrecken in die Glieder fuhr.

Bei näherer Lektüre hingegen offenbarte sich der Springersche Jubel als kaum gehaltvoller, aber genauso beliebig und belanglos wie der nach Erfolgen deutscher Sportler abgesonderte. Schon am Folgetag wurde der aus Fußball und mallorquinischen Strandschlägereien bekannte Frontverlauf nachgezeichnet: »Engländer beleidigen deutschen Papst!« Die berechtigte Kritik britischer Medien an Ratzingers HJ-Mitgliedschaft war zwei Tage nach der Papstwahl in Bild vor allem willkommener Anlass deutscher Vergangenheitsrechtfertigung. Weit beunruhigender als die Ergüsse der vom Springer-Verlag Mobilisierten ehemaligen Hitlerjungen sind aber die denunziatorischen Kommentare rot-güner fellow travellers.

Die Einschätzungen Ratzingers in den regierungsnahen Blättern kurz vor und nach seiner Wahl lesen sich wie informelle Ausbürgerungsurkunden für einen des wahren Deutschseins Unwürdigen. »Ratzinger ist zwar Deutscher«, kommentierte der Tagesspiegel am Tag nach der Wahl, »doch schon längst vom Kuriensystem absorbiert.« Zuvor hatte die taz ihn als Haupt einer finsteren gemeinschaftsschädigenden Verschwörung enttarnt, der sie aber nur wenig Aussichten auf Erfolg einräumen mochte: »Ratzinger kann auf die Stimmen der vielleicht zwei Dutzend Kardinäle zählen, die der reaktionären Fast-Geheimorganisation ›Opus Dei‹ nahe stehen.«

Nur zwei Tage später war aus dem Anführer eines chancenlos minoritären Haufens der Kommandant einer gelungenen feindlichen Invasion geworden: »Ratzinger und die Truppen des Opus Dei im Konklave haben auf ganzer Linie gesiegt.« (taz) Diese Erkenntnis musste dem taz-Autor und seinen Lesern umso alarmierender erscheinen, weil sie eine Woche zuvor dem konkurrierenden Tagesspiegel entnehmen konnten, es gebe Anlass, die Zugehörigkeit des Geschmähten zur menschlichen Gattung zu bezweifeln: »Ratzinger war in den achtziger Jahren verhasst und wurde in Bayern auch Ratz – die Ratte – genannt.«

Ganz so weit wollte die taz dann doch nicht gehen; nur gewisse, im Milieu realpolitisch orientierter Mitläufer überaus geschätzte Eigenschaften mochte man dem »Mann mit der hohen, schwachen Stimme« nicht zubilligen: »Einfach ist er nicht, demütig kaum – und ein Arbeiter ist der Intellektuelle auch nicht.« Einfach erschließt sich gleichwohl auch nicht die Schlussfolgerung der taz: »Die Kirche geht schweren Zeiten entgegen.« Ebenso wenig wie die Konklusion des Tagesspiegels: »Die Wahl von Joseph Ratzinger trägt der Realität keine Rechnung.« Sinn und Wahrheitsgehalt dieser zunächst dunklen Feststellungen erschließen sich erst dann, wenn man sich die Jubelschlagzeile der Bild-Zeitung einmal auf der Zunge zergehen lässt.

Es ist die Anmaßung – und das tatsächlich in seiner übelsten Konnotation Päpstliche – deutscher Gesellschafts- und Weltgestaltungsansprüche, dass sie das deutsche Partikulare als Allgemeines erscheinen, und – sich als Sachwalter des Allgemeinen wähnend – ihre Anhänger jedes tatsächlich Partikulare mit niederträchtigem Hass verfolgen lassen. Ratzinger werde als Papst, so der Tagesspiegel, »die theologischen Schrauben noch strammer anziehen und seine Herde mit Instruktionen, Mahnschreiben und Enzykliken auf seine misstrauisch-konservative Linie einschwören«.

Was nicht religiösen Kritikern nur recht sein kann – schließlich werden so die Grenzen zwischen weltlichen und religiösen Ambitionen deutlich, zu deren Akzeptanz heutzutage niemand mehr gezwungen werden kann –, gerät Anhängern der zivilgesellschaftlichen deutschen Staatsreligion zum Skandal. Ratzinger, lamentiert der Tagesspiegel weiter, stehe für »ein blutleeres Weiter-so, nicht für einen frischen Start oder gar ein neues katholisches Koordinatensystem«.

Das Verlangen ganz und gar unkatholischer Ideologen nach einer »Reformfähigkeit« der katholischen Kirche meint nichts anderes als die bedingungslose Unterwerfung unter die vom staatlichen Souverän qua Gewalt gestiftete Idee des Gemeinwohls, die vom willfährigen Staatsvolk dann als zivilgesellschaftliche Hackordnung realisiert wird.

Wünschenswert wäre es, wenn der katholische Partikularismus die Linken an ihren eigenen vergessenen Partikularismus, dem zufolge es richtiges Leben nicht im Falschen geben kann, erinnern würde. Sie könnten dann in Joseph Ratzingers viel geschmähten Überlegungen zum »Relativismus, das heißt, das Sich-treiben-lassen hierhin und dorthin von jedwedem Wind der Lehre, als die einzige Haltung auf der Höhe der Zeit« nicht nur Parallelen mit Jean-Paul Sartres Überlegungen zur Charakterologie des Kollaborateurs erkennen, sondern sich auch eines anderen deutschen Joseph entsinnen: Jenes Sohnes eines donauschwäbischen Metzgers, der es vom kleinen Rädelsführer einer anpolitisierten Straßengang zum Außenminister brachte und zu dessen anerkannten Leistungen sein Beitrag zur Zerschlagung Jugoslawiens und die Weißwaschung nicht nur des iranischen Islamfaschismus zählen. Mit Ratzinger wird man – bis auf weiteres – auskommen können, mit Fischer jedoch nicht.