Sieben dunkle Jahre überstehen

Viele Bürgerrechte haben die rot-grüne Ära nicht überlebt. Ein Rückblick auf die Entwicklung der »Inneren Sicherheit« unter Schily und Co. von rolf gössner

Hoffnungen

Gerade die Grünen sind 1998 explizit als Bürgerrechtspartei angetreten, die nach 16 Jahren Kohl & Kanther den Bürgerrechten endlich wieder zum Durchbruch verhelfen wollte. Doch anders als von vielen bürgerrechtsbewegten Menschen erhofft, kam es zu keinem wirklichen Umdenken in der Innenpolitik. Zu keiner Zeit sind die Hinterlassenschaften der schwarz-gelben Vorgänger auf den Prüfstand gestellt worden. Mit Ausnahme der Kronzeugenregelung wurde kein einziges noch so die Bürgerrechte einschränkendes Repressionsinstrument revidiert. Auf eine liberalere Kriminalpolitik hoffte man ebenso vergeblich wie auf eine demokratische Polizeireform und auf ein humanes Asyl- und Ausländerrecht. Unter der rot-grünen Regierung hat es weder einen Einstieg in die geheimdienstfreie Gesellschaft gegeben noch einen Ausstieg aus dem autoritär-präventiven Sicherheitsstaat, der im Gegenteil noch weiter ausgebaut wurde.

Skeptiker hatten sich damals die Frage gestellt: Was werden die Grünen mit der SPD in Sachen Bürgerrechte wohl durchsetzen können, oder besser gesagt: gegen die SPD? Schließlich hatten die Sozialdemokraten bereits in den siebziger Jahren zur Zeit der sozialliberalen Koalition für rigorose Einschnitte in die Substanz der Bürgerrechte gesorgt. Erinnert sei an den »Deutschen Herbst«, an Berufsverbote und Anti-Terror-Gesetze. In den neunziger Jahren begab sich die SPD aus der Opposition heraus in eine faktische Große Koalition der »Inneren Sicherheit«, zum Beispiel bei der Demontage des Asylrechts. Schließlich konnte in der SPD ausgerechnet ein früherer Grüner, Otto Schily, zum Hardliner mutieren, der der rot-grünen Koalition die Richtung vorgab, unter anderem mit dem später für weitgehend verfassungswidrig erklärten Großen Lauschangriff. An dem Konzept hatte der damalige Oppositionspolitiker maßgeblich mitgewirkt. Seine verfassungswidrige Betätigung wäre streng genommen ein Fall für den Verfassungsschutz, bei Schily war sie jedoch offenbar eine Empfehlung für den Posten des Innenministers.

Rechts überholt

Schily sollte in dieser Funktion mit seiner Law-and-order-Politik die CDU/CSU übertrumpfen. Schon lange vor dem 11. September 2001 wurde er diesen Ansprüchen mehr als gerecht. Mit seiner restriktiven Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Pro Asyl als »staatlich organisierte Diskriminierung« bezeichnete, schaffte er es sogar, die Konservativen rechts zu überholen.

Schon nach der ersten Halbzeit von Rot-Grün musste man erkennen: In Sachen Bürgerrechte wird es, trotz der Grünen, keinen Durchbruch geben – abgesehen von respektablen Ausnahmen, wie der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder dem überfälligen Zuwanderungsgesetz, um nur zwei herausragende Projekte zu nennen. Doch selbst da sind die Erwartungen kaum erfüllt worden, denn das neue Zuwanderungsgesetz verdient seinen Namen nicht: Es müsste eher »Zuwanderungsbegrenzungsgesetz« heißen. Auch andere rot-grüne Projekte haben einen entscheidenden Haken: Sowohl das Informationsfreiheitsgesetz als auch das ohnehin stark verwässerte Antidiskriminierungsgesetz sind viel zu spät beschlossen worden, so dass sie dem vorzeitigen Ende der rot-grünen Regierung zum Opfer fallen dürften.

Selbstverschuldetes Scheitern

Zwei andere Großprojekte hatten hingegen durchschlagende Wirkung: Das NPD-Verbotsverfahren und die so genannten Anti-Terror-Gesetze. Im Herbst 2000 hatten die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat im Rahmen ihres »Aufstands der Anständigen« einen fachlich und politisch unverantwortlichen Antrag auf ein Verbot der rechtsextremen NPD gestellt. Unverantwortlich deshalb, weil die Bundesregierung diesen Antrag ungeachtet der Unterwanderung der NPD durch V-Leute stellte. Schließlich war der Verfassungsschutz seit langem über ein ganzes Netz von bezahlten V-Leuten in die NPD und ihre Machenschaften verstrickt. Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder der NPD standen seit Jahren im Sold des Geheimdienstes – also fast jeder Siebte, über Hundert dürften es auf allen Parteiebenen gewesen sein.

Der eigentliche Skandal liegt darin, dass die Exekutive diese Infiltration gegenüber dem Bundesverfassungsgericht vertuschen wollte, obwohl wesentliche Teile des Verbotsantrags gerade auf belastenden Zeugenaussagen dubioser V-Leute basierten, die dem Quellenschutz unterlagen. Das hätte ein rechtsstaatlich faires Verbotsverfahren unmöglich gemacht. Insoweit ist es konsequent, dass das Bundesverfassungsgericht dieses geheimdienstlich verseuchte Verfahren im März 2003 einstellte. Bis heute hat die Bundesregierung hieraus keine wirklichen Konsequenzen gezogen. Noch immer ist die NPD von V-Leuten durchsetzt und die Verfassungsschutzbehörden wollen keinesfalls davon ablassen, so dass ein neuer Verbotsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre.

Anti-Terror-Aktionismus

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 wusste die rot-grüne Koalition nur zu genau, was sie an Schily hatte, der mit seinem Anti-Terror-Aktionismus zeitweilig an Wählergunst gewinnen konnte. Da rieben sich die Hardliner der CDU/CSU-Opposition verwundert die Augen, weil sie auf ihrem ureigenen Terrain keinen Stich mehr machten. Er werde »alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt«. Mit dieser martialischen Ankündigung trug Schily der Stimmungslage Rechnung, ließ lang gehegte Pläne aus den Schubladen kramen, zu voluminösen »Otto-Katalogen« schnüren und mit Anti-Terror-Etiketten bekleben.

Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben der Regierung und der Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner von Anschlägen zu ermitteln und mit geeigneten, aber auch mit angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Doch die Bundesregierung hat weit mehr getan: Sie hat verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte unterhöhlt, obwohl es gerade in einer solch prekären Situation der Unsicherheit und Angst Pflicht einer souveränen Regierung gewesen wäre, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem hilflosen Schrei nach dem »starken Staat« mit weitgehend symbolischer Politik zu folgen. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit zuzumuten, wurden ihr unhaltbare Sicherheitsversprechen gemacht. Man bediente das ohnehin starke Sicherheitsbedürfnis der Bürger und nutzte es zur Legitimierung für staatliche Aufrüstungsmaßnahmen.

Der große Streich

Es war ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung, die mit den Anti-Terror-Gesetzen die umfangreichsten »Sicherheitsgesetze« zu verantworten hat, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind. Dabei gab es längst ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen mit zahlreichen Sonderbefugnissen für die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste, längst gab es verdeckte Ermittler, Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige »Schleierfahndungen« sowie eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten. Mit den neuen Anti-Terror-Gesetzen wird ein fataler Trend verstärkt: die weitere Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft. Der ganz normale Ausnahmezustand.

Hierzu nur ein paar Beispiele: Zwar gehörten Migranten schon zuvor der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe an. Doch nun werden sie per Gesetz unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungssystem unterworfen. Ohne konkreten Anlass können sie in Ausforschungen und Ermittlungen von Geheimdiensten und Polizei geraten. Dies kann zur Verweigerung der Einbürgerung oder Visa-Erteilung führen, zum Verlust des Arbeits- oder Studienplatzes, zu Haft, zur Ausweisung oder Abschiebung und schließlich auch zu politischer Verfolgung, zu Folter und Mord in den Herkunftsländern, aus denen die Betroffenen zuvor geflohen waren.

Die Geheimdienste, deren Versagen im Zusammenhang mit dem 11.9. offenkundig geworden ist, erlebten nach den Terroranschlägen einen regelrechten Boom. Sie wurden aufgerüstet und bekamen neue Aufgaben und Befugnisse, die tief in die Grundrechte eingreifen. So dürfen etwa der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst von Banken, der Post, Telekommunikationsanbietern und Fluglinien Auskünfte verlangen über Geldanlagen, Konten- oder Reisebewegungen oder über Telefonverbindungs- und Nutzungsdaten ihrer Kunden.

Tausende von Beschäftigten in »lebens- oder verteidigungswichtigen« Einrichtungen werden geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen. Gemeint sind Einrichtungen wie Energieunternehmen, Krankenhäuser, pharmazeutische Firmen, Chemieanlagen, die Bahn, die Post, Banken, Telekommunikationsunternehmen, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten. Menschen, die sich dort um Stellen bewerben oder sie bereits innehaben, werden weit häufiger als bislang geheimdienstlich überprüft. Und nicht nur sie, womöglich auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld.

Künftig werden biometrische Daten wie digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke in die Ausweispapiere aller Einwohnerinnen und Einwohner aufgenommen. Die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie degradiert den Menschen zum bloßen Objekt staatlicher Sicherheitspolitik.

Mit dem neuen Paragrafen 129b Strafgesetzbuch können hierzulande mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer auch ausländischer »terroristischer Vereinigungen« strafrechtlich verfolgt werden, auch wenn sie sich in Deutschland völlig legal verhalten. Voraussetzung für die Strafverfolgung ist eine Ermächtigung durch das Bundesjustizministerium. Das ist ein Novum in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, mit dem das politische Strafrecht verschärft, das Ministerium zum Richter über politische Bewegungen im Ausland gemacht wird.

»Sicherheitsarchitektur«

Obwohl wir die neuen Sicherheitsregelungen noch nicht verarbeitet haben, obwohl niemand deren Notwendigkeit und Effizienz wirklich abschätzen kann, erleben wir immer wieder gespenstische Sicherheitsdebatten. Diese drehen sich nicht mehr nur um Einzelmaßnahmen und Gesetzesverschärfungen. Inzwischen ist die Rede von einer ganz neuen »Sicherheitsarchitektur«. Dabei geht es um weitere Tabubrüche. Zum Beispiel um die Militarisierung der Inneren Sicherheit, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inneren steht.

Ein anderer Tabubruch ist die Zentralisierung aller Sicherheitsbehörden, allen voran der Polizei und des Verfassungsschutzes, obwohl diese nach dem Föderalprinzip grundsätzlich Ländersache sind. Eine weitere Strukturveränderung soll eine verstärkte Zusammenarbeit der Polizei und der Geheimdienste sowie einen verstärkten Datenaustausch bewirken. Die Stichworte heißen: Gemeinsame Lagezentren zur Terrorismusbekämpfung sowie eine zentrale »Islamistendatei«. Darüber hinaus soll es eine europaweite Datenvernetzung geben – allerdings ohne funktionierende demokratische Kontrollmechanismen. Eine solche Vernetzung bedeutet die endgültige Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten, die eine bedeutsame Konsequenz aus den Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus war.

Terror stärkt die Staatsgewalt und entwertet Freiheitsrechte. Das hat sich seit dem 11. September deutlich gezeigt. Etliche »Anti-Terror-Maßnahmen« verstoßen gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit und zeigen Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der letztlich in den Überwachungsstaat führt. Die meisten der Befugniserweiterungen sind wenig geeignet zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr.

Daran konnte auch die von den Grünen durchgesetzte Evaluation und Befristung bestimmter Gesetze nichts ändern, zumal das Bundesinnenministerium selbst evaluiert und in seinem Bericht vom Mai 2005 erwartungsgemäß zu dem Ergebnis kam, dass die Sicherheitsbehörden die neuen Befugnisse »erfolgreich, zurückhaltend und verantwortungsvoll« nutzten. Die Gesetze hätten sich bewährt und müssten in Kraft bleiben, ja, es müssten unbedingt noch mehr Gesetze zur inneren Sicherheit beschlossen werden. Vor Gericht würde man wohl von einem Gefälligkeitsgutachten sprechen.

Der »Anti-Terror-Kampf« hat sich als ein gigantisches Umorientierungs- und Umgestaltungsprogramm herausgestellt: Wir sind Zeugen einer Demontage hergebrachter Standards des Völkerrechts, der Bürgerrechte und demokratisch-rechtsstaatlicher Prinzipien – zivilisatorischer Errungenschaften, die über Jahrhunderte mühsam erkämpft worden sind. Angesichts dessen hatte Otto Schily einmal völlig Recht: »Man bekämpft die Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung.« Diesen mahnenden Aufruf hat der Rechtsanwalt Schily 1978 unterzeichnet. Die Worte sind heute noch gültig, nur wohl nicht mehr für den amtierenden Innenminister.

Was wird nun aus den Grünen, denen die »Korrektivfunktion« zukam, das Allerschlimmste zu verhüten, um schließlich dem Schlimmsten zum Durchbruch zu verhelfen? Sie hatten in der Regierung den Ruf zu verlieren, eine Bürgerrechtspartei zu sein. Und sie haben ihn konsequent verloren. Zumal sie kurz vor ihrem Scheitern auch noch der Neuauflage des Großen Lauschangriffs und der Ausweitung der Nutzung des genetischen Fingerabdrucks zugestimmt haben. Nun empfiehlt sich dreist die FDP als Nachfolgerin, obwohl diese ihren Ruf als Bürgerrechtspartei bereits in der Ära Kohl verspielt hat. Egal wie die Neuwahlen ausgehen: Der nächste Innenminister wird zwar nicht Schily heißen, aber auch er wird wohl ein Schily sein.

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Präsident der »Internationalen Liga für Menschenrechte«. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt verfasste er: »Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes – Kriminelle im Dienst des Staates«. Knaur-Verlag, München 2003