»Heute gibt es niemanden mehr, der alles will«

Nanni Balestrini ist der wichtigste literarische Chronist der linken Bewegungen seit den sechziger Jahren in Italien. In seiner experimentellen Prosa verbindet er ästhetische und politische Avantgarde. Am 7. April 1979 wurde gegen ihn sowie gegen Toni Negri und mehrere andere Mitglieder von Potere Operaio ein Haftbefehl erlassen. Ihnen wurde die Beteiligung an einer subversiven Vereinigung sowie an mehreren politischen Morden vorgeworfen, unter anderem an der Ermordung von Aldo Moro, des von den Roten Brigaden 1978 entführten Vorsitzenden der Christdemokraten. Durch die Flucht nach Frankreich, das er skifahrend über den Mont Blanc erreichte, konnte Balestrini sich der Haft entziehen. Ein Gespräch über linke Terroristen und rechte Fußballfans.
Interview Von

Kürzlich wurden in Norditalien 15 Leute festgenommen, die verdächtigt werden, einen »langfristigen revolutionären Krieg« vorzubereiten. Wer sind diese Leute?
Es handelt sich meiner Ansicht nach um ein isoliertes Phänomen, dessen Einfluss auf kleine Kreise begrenzt ist. Man sieht das daran, dass diese Leute, die sich zu Mitgliedern der Neuen Roten Brigaden erklären, nicht einmal ein Papier verfasst haben, in dem sie ihr Projekt – wenn wir es so nennen wollen – erklären. Vor 30 Jahren gab es eine unglaubliche Produktion von Papieren, Erklärungen und Ähnlichem. Das war so, weil die bewaffneten Gruppen damals die Absicht hatten, sich in der Gesellschaft zu verankern. Die Neuen Brigadisten haben bisher nur von Erklärungen abgeschrieben, die 30 Jahre alt sind. Der Inhalt und die Sprache gleichen denen von damals. Wie man so etwas ernst nehmen kann, ist mir ein Rätsel. Viele der Verhafteten waren Fabrikarbeiter.

Über die Hälfte waren Mitglieder der größten italienischen Gewerkschaft CGIL. Sind heute Fabriken wieder Orte, an denen Politik gemacht wird?
Aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil der Verhafteten Fabrikarbeiter und Mitglieder der Gewerkschaft waren, hat sich eine soziale Hysterie entwickelt, die aus der Fabrik einen »gefährlichen« Ort der politischen Radikalisierung macht. Ich weiß nicht, ob die Brigadisten in den Fabriken wirklich etwas wollten. Wenn das der Fall ist, dann ist das nur ein Beweis dafür, wie fremd ihnen die gegenwärtige soziale Realität ist. Heute sind die Fabrikarbeiter eher damit beschäftigt, ihren eigenen, meist unsicheren Arbeitsplatz zu behalten. Verweigerung der Arbeit und Kampf gegen die »totale Institution«, wie wir sie damals nannten, die Fabrik eben, Sabotage und sogar Streik, sind heute fast Relikte einer fernen Vergangenheit.

Die neuen bewaffneten Gruppen sind beim »Wir wollen alles« stehen geblieben.
Genau. Ein Slogan, der vor 40 Jahren in den Fabriken und auf den Straßen gerufen wurde. Heute gibt es niemanden mehr, der »alles will«. Es gibt keine Gefahr für den Staat, die von den Fabriken ausgehen könnte. Nur weil ein paar Durchgeknallte mit Waffen in der Gewerkschaft aktiv waren, kann man nicht von einer ernsthaften Bedrohung reden. Und man kann auch nicht sagen, dass diese Leute aus irgendwelchen besonderen Gründen die Fabrik als Ort ihrer Propaganda ausgewählt hatten. Meiner Ansicht nach war das eher Zufall. Ein paar waren Fabrikarbeiter, andere waren Studenten und besuchten ab und zu die Centri Sociali.

Auch gegen die Centri Sociali wurde eine Kampagne gestartet.
Die ganze Operation wird als Versuch interpretiert, die sozialen Bewegungen zu kriminalisieren. Ich sage nicht, dass alles erfunden wurde, das wäre ja zu einfach. Aber warum die Geschichte zu diesem Zeitpunkt raus kam, das ist eine Frage, die man sich stellen könnte. Es ist auffällig, dass die Verhaftungen einige Tage vor einem wichtigen Termin für die sozialen Bewegungen erfolgten, nämlich der Demonstration gegen die Erweiterung der US-Militärbasis in Vicenza. Die Verhafteten werden alle bald frei kommen, denn bislang konnte ihnen – bis auf Waffenbesitz – nichts Konkretes vorgeworfen werden.

Meinen Sie wirklich, dass der Staat in den sozialen Bewegungen eine so große Bedrohung sieht?
In Vicenza sind sie mit Mitgliedern der Regierung gemeinsam auf die Straße gegangen … Nicht die sozialen Bewegungen sind für den Staat eine Bedrohung. Eher ist es die gesamte Situation, die soziale Gewalt und Ablehnung gegenüber den Institutionen produziert. Die sozialen Bewegungen versuchen, so etwas durch Initiativen und Demonstrationen zum Ausdruck zu bringen. Es gibt aber auch andere Formen, dazu zähle ich zum Beispiel die Gewalt in den Fußballstadien, die manchmal eskaliert und zur »sozialen Bedrohung« erklärt wird.

Die Kämpfe der Tifosi mit der Polizei sind zum Großteil auf eine generelle Unzufriedenheit zurückzuführen, die sehr materiell ist. Es sind die Formen von Gewalt, von denen Sie in Ihren Büchern erzählen, von »Wir wollen alles« über »Die Unsichtbaren« bis hin zu »Die Wütenden«. Besteht eine Verbindung zwischen sozialen Bewegungen, bewaffnetem Kampf und Gewalt in den Stadien?
Man kann keine direkte Verbindungslinie ziehen. Die angeblichen Terroristen, die noch davon überzeugt sind, dass eine kleine Gruppe mit festen marxistisch-leninistischen Überzeugungen die Revolution herbeibomben kann, und die Ultras, die in den Stadien randalieren und sich heftige Kämpfe mit der Polizei liefern – die nur in die Schlagzeilen kommen, wenn jemand auf einer der beiden Seiten stirbt –, drücken dieselbe soziale Unzufriedenheit aus.

Bleiben wir kurz in der Kurve. Wer ist dort unzufrieden und warum?
Ich habe versucht, das zu erklären, als ich in den achtziger Jahren »Die Wütenden« geschrieben habe. Die Wut kam von draußen, von der Straße, der Familie, dem Arbeitsplatz und wurde in den Fußballstadien kanalisiert. Seitdem hat sich sehr viel geändert. In der Gesellschaft und in den Stadien, denn dort kann man soziale Veränderungen sehr gut verfolgen. In den achtziger Jahren kam die italienische Gesellschaft aus einer Phase der radikalen Politisierung heraus, die Gesellschaft war extrem polarisiert, und das konnte man in den Stadien auch spüren. Damals war es noch üblich, zwischen linken und rechten Fußballfans zu unterscheiden. Ich schrieb in diesem Buch über die Rot-Schwarzen Brigaden, die Fankurve des Vereins AC Mailand, die historisch als »linke« Kurve gilt.

Was machte aus ihnen »linke« Fans? In ihrem brutalen Macho-Auftreten und ihrem identitären Zugehörigkeitswahn waren sie von rechten Ultras kaum zu unterscheiden. Sie beziehen sich auf die Gewalt?
In meinem Buch schreibe ich über eine symbolische Gewalt. Das, was in den vergangenen Wochen hinsichtlich der Gewalt in den Stadien geschrieben wurde, ist genauso Propaganda wie die Terroristen, die in den Fabriken angeblich wieder Fuß fassen. Es stimmt, dass man bei manchen brutalen Verhaltensweisen der Ultras nicht zwischen links und rechts unterscheiden kann. Was die Faschisten in den Stadien eingeführt haben, und daran sind wirklich nur die Ultrarechten schuld, ist aber der Rassismus, der Antisemitismus, und, generell, verbale Gewalt. Das gab es in den achtziger Jahren nicht. Damals haben die Tifosi, die nicht rechts waren, sogar versucht, humorvolle und geistreiche Transparente zu zeigen.

Warum hat sich das geändert?
Von Humor ist in den Stadien längst nichts mehr zu spüren. Einerseits ist es die repressive Haltung des Staats, die alles auf den Konflikt zwischen den Ultras und der Polizei reduziert. Die Ultras kommen nicht mehr dazu, sich gegenseitig zu bekämpfen, wie ich es in meinem Buch beschrieben habe. Ihre Wut richtet sich dann gegen den gemeinsamen Feind: die Polizei. Außerdem wurden die Ultras in den vergangenen Jahren verstärkt in die Geschäfte der Clubs einbezogen, zum Beispiel durch den Verkauf von Gadgets oder Tickets für Auswärtsspiele. Es hat eine Kommerzialisierung stattgefunden, die dazu geführt hat, die Spiele aus dem Auge zu verlieren.