Benny Morris israelischer Historiker, im Gespräch über Israel, die Palästinenser und den »Friedensprozess«

»Die Fatah ist nicht moderat«

Benny Morris, Professor für Geschichte an der Ben-Gurion-Universität in Ber Sheva und Begründer der israelischen »Neuen Historiker«, über die Auswirkungen des palästinensischen Bürgerkriegs auf den Friedensprozess im Nahen Osten
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Wie verfolgt die israelische Öffentlichkeit die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen?
Mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite ist man erleichtert darüber, dass die Araber damit beschäftigt sind, Araber zu töten, anstatt wie in den Monaten zuvor israelische Wohngebiete zu beschießen. Aber andererseits scheint der Gaza-Streifen ins Chaos abzugleiten, und letztlich wird das Chaos in Form von arabischen Angriffen auf Juden über die israelische Grenze schwappen. Insgesamt glauben die meisten Israelis, dass die Kontrolle des Gaza-Streifens durch die Hamas schlecht für Israel ist, da sich die Macht der Hamas auch auf die Westbank ausdehnen könnte.

Nach dem Beginn der zweiten Intifada sagten Sie, die Palästinenser seien insgesamt nicht bereit für den Frieden. Nun gibt es Krieg zwischen Palästinensern. Wie groß ist der Unterschied zwischen der Hamas und der Fatah?
Ich habe nie geglaubt, dass es einen großen Unterschied gibt. Die palästinensische Nationalbewegung, egal ob sie in den dreißiger und vierziger Jahren von Hadj Amin al-Husseini, in den sechziger bis zu den neunziger Jahren von Yassir Arafat oder heute von Mahmoud Abbas angeführt wird, will schon immer und bis heute ganz Palästina für die Araber und das Ende des jüdischen Staats. Nun kommt hinzu, dass mit der Hamas die derzeit wichtigste Fraktion ein islamisches Palästina anstrebt. Israel ist aus ihrer Sicht ein temporärer Unfall der Geschichte, der langfristig behoben werden soll. Das ist es, was meiner Meinung nach die meisten Palästinenser grundsätzlich wollen und was die Hamas offen ausspricht.

Fällt die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) einer Entwicklung zum Opfer, die sie selbst im Jahr 2000 durch die Ablehnung der Camp-David-Angebote eingeleitet hat?
In gewisser Hinsicht ja. Hätte die PA die Friedensangebote von Barak und später von Clinton akzeptiert – ich bezweifle, dass sie dazu in der Lage war –, hätte sie vielleicht danach gegen die Hamas kämpfen müssen. Vermutlich hätte sie im Jahr 2000 die Gewalt vermeiden können. Aber die gegenwärtigen Kämpfe haben weniger mit einem Streit über einen Friedensprozess mit Israel zu tun als mit internen Machtkämpfen. Wer führt das palästinensische Lager an, wer holt dabei für sich die meisten ökonomischen, sozialen und politischen Vorteile heraus? Bei den Kämpfen in den Straßen von Gaza geht es nicht darum, dass die Fatah Frieden mit den Juden will und die Hamas nicht. Beide bevorzugen ein Palästina ohne Juden.

Ist die gegenwärtige Situation eine Folge des von Ihnen unterstützten Gaza-Rückzugs? Hat er sich als Fehler erwiesen?
Im Moment sieht es wie ein Fehler aus, da Gaza gewissermaßen der Hamas ausgehändigt wurde, was definitiv schlecht für Israel ist. Aber wir wissen noch nicht, was historisch betrachtet die Konsequenzen des Rückzugs sein werden. Den Rückzug aus besetzten Gebieten unterstütze ich noch immer, grundsätzlich ist es für Israel am besten, nicht über Palästinenser zu herrschen und die Besatzung zu beenden.

Sollte sich Israel in nächster Zeit aus der Westbank zurückziehen?
Nein, sicher nicht kurzfristig. Die Ergebnisse im Gaza-Streifen zeigen, dass ein Rückzug viel besser geplant sein muss. Von Gaza aus kann man Sderot und Ashkelon beschießen, aber nach einem Rückzug aus der Westbank wären Westjerusalem und Tel Aviv in Schussweite palästinensischer Raketen. Der Rückzug könnte nicht einseitig, sondern nur als Teil eines Abkommens stattfinden.

Die Hamas hat zuerst die Wahlen gewonnen und scheint nun den Bürgerkrieg zu gewinnen. Bleibt nun noch etwas anderes übrig, als Verhandlungen mit der Hamas zu versuchen, wie es beispielsweise Tom Segev fordert?
Eine schwierige Frage. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Hamas keine Zweistaatenlösung will. Ihre Führer haben das wiederholt gesagt. Ich lehne Verhandlungen mit der Hamas gar nicht grundsätzlich ab, aber dabei kann bestenfalls eine Art taktisches Arrangement herauskommen, ein kurzer Waffenstillstand. Langfristig will die Hamas Israel zerstören.

Ist ein Friedensprozess mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung eine Illusion, von der man sich nun endgültig verabschieden sollte? Welche anderen Perspektiven gibt es überhaupt?
Das ist das Hauptproblem. Eine Zweistaatenlösung funktioniert nur, wenn beide Seiten sie wollen, und wie wir wissen, steht ihr eine Seite feindlich gegenüber. Eine Einstaatenlösung ergibt auch keinen Sinn, denn ich will nicht unter einer langfristig daraus resultierenden arabischen Mehrheit leben. Die Juden würden zu einer Minderheit werden und das Land verlassen, das kann also auch keine Lösung sein. Natürlich könnten in den nächsten 100 Jahren die Araber die Juden ins Meer treiben oder auch andersherum, das wären zwei weitere historisch mögliche Einstaatenlösungen. Beide sind nicht sehr appetitlich.

Was sollte die Arabische Liga unternehmen, nachdem die von ihr unterstützte Einheitsregierung von Hamas und Fatah politisch gescheitert ist?
Die Arabische Liga ist schwach und unfähig, die arabischen Staatsführer haben Angst vor den fundamentalistischen Minderheiten oder gar Mehrheiten in ihren Ländern und werden nichts gegen die Hamas unternehmen.

Israel lehnt für gewöhnlich die Internationalisierung des Konflikts ab. Ändert sich diese Haltung nun?
Richtig, Israel will traditionellerweise keine fremden Truppen auf seinem Boden oder auch nur an seinen Grenzen, aber voriges Jahr hat Israel als Teil der Abmachungen, die den Krieg gegen die Hizbollah beenden sollten, der Verstärkung der UN-Truppen an der südlibanesischen Grenze zugestimmt. Ministerpräsident Ehud Olmert hat auch akzeptiert, UN-Truppen oder andere fremde Einheiten zumindest an der ägyptischen Grenze des Gaza-Streifens zu stationieren, um Waffenschmuggel zu verhindern. Würden die Truppen wirklich versuchen, den Waffenschmuggel zu blockieren, würde die Hamas angreifen. Die Folge wäre, dass sich die UN-Truppen genauso schnell zurückziehen würden wie 1983 die amerikanischen Truppen aus dem Libanon, nachdem die Hizbollah mehrere große Attentate verübt hatte. Internationale Truppen könnten kurzfristig helfen, aber sie sind keine wirkliche Lösung. Das klingt sehr pessimistisch … Es ist paradox zu sehen, dass gerade Tausende Palästinenser versuchen, aus dem Gaza-Streifen zu fliehen – was nur allzu verständlich ist. Viele davon sind Flüchtlinge von 1948, sie werden nun zum zweiten Mal Flüchtlinge. Das erste Mal vielleicht wegen der Israelis, aber diesmal sind die Palästinenser selbst verantwortlich.