Geflüster in der Wüste

Mit dubiosen Geschäften belohnt die EU den ­libyschen Diktator Ghaddafi für die Freilassung von sechs Gefangenen. Denn der Handel mit dem ölreichen nordafrika­nischen Staat ist lukrativ. von anton landgraf

Wie kaum eine andere Institution verpflichtet sich die Europäische Union, die Menschenrechte zu wahren. Die einschlägigen Dokumente er­wecken jedenfalls den Eindruck, dass es sich bei der EU um eine Organisation handelt, deren vornehmlicher Zweck in der Emanzipation der Menschheit liegt. Sowohl in der Grundrechte­charta, immerhin eine Art inoffizielle EU-Verfassung, wie auch in den wichtigsten außenpolitischen Verträgen erklärt die Union unentwegt, demokratische Rechte schützen und fördern zu wollen, wo immer es in ihrer Macht steht.

Dass die idealistischen Ansprüche nicht viel wert sind, wenn es um materielle Interessen geht, hat die EU indes schon mindestens ebenso häufig bewiesen, wie sie ihr demokratisches Credo verkündet hat. Doch eine derart bizarre Heuchelei wie im Fall der bulgarischen Krankenschwestern ist vermutlich selbst in der EU-Geschichte ein­ma­lig.

Dabei sah alles zunächst nach einer europä­ischen Erfolgsgeschichte aus. Acht Jahre lang waren fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt in Libyen inhaftiert gewesen, weil sie angeblich mehrere hundert Kinder bewusst mit Aids infiziert hatten. Im Juli bestätigte ein Gericht die gegen sie verhängten Todesurteile, die kurz darauf in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt wurden. Doch dann gelang es der EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner gemeinsam mit der französischen Präsidentengattin Cécilia Sarkozy innerhalb weniger Tage, die Ausreise der Verurteilten zu erreichen.

»Ich bin über die Entscheidung der libyschen Regierung sehr glücklich und teile die Freude der Entlassenen«, sagte Ferrero-Waldner nach den Verhandlungen in Tripolis. Anschließend dankte sie der französischen First Lady, deren gute Beziehungen zum libyschen Staatspräsidenten Muammar al-Ghaddafi erst den Durchbruch ermöglicht hätten. »Sie hatte sein Ohr«, erklärte Ferrero-Waldner geheimnisvoll.

Was Cécilia Sarkozy dem libyschen Diktator alles eingeflüstert hat, wird man wohl nie genau erfahren. Doch kaum waren die Krankenschwestern am 24. Juli in Sofia angekommen, wurden irritierende Einzelheiten über die »humanitäre Lösung« bekannt – etwa über die rund 460 Millionen Dollar, die als »Schadensersatz« für die infizierten Kinder an eine libysche Stiftung gezahlt werden sollen, teils wohl von der EU, auch der Emir von Katar wurde als Spender genannt, die Details wurden nicht bekannt gegeben.

Dann überraschte der französische Präsident Nicolas Sarkozy mit der Entscheidung, ein Atomkraftwerk an Libyen zu liefern. Anschließend plauderte Ghaddafis Sohn Saif al-Islam in einem Interview mit Le Monde über geplante französische Waffenlieferungen, die wenig später vom französischen Verteidigungsminister Hervé Mori bestätigt wurden. Ein interministerieller Ausschuss habe dem Rüstungsgeschäft schon im Februar zugestimmt – also vor der Wahl von ­Nicolas Sarkozy zum Präsidenten.

Bei so viel Entgegenkommen verwundert es nicht, dass die in der vergangenen Woche bekannt gewordenen Aussagen der Krankenschwestern nur noch am Rande zur Kenntnis genommen wurden. Was sie zu berichten hatten, passte auch kaum zu den Berichten über die »humanitäre Geste« Ghad­dafis. »Man schlug mich mit Büchern in den Nacken und mit Schläuchen auf die Fersen«, berichte­te etwa die 41 Jahre alte Krankenschwester Nassja Nenova dem deutschen Online-Magazin stern.de. Vier bis fünf Mal sei sie außerdem mit Stromschlä­gen gefoltert worden. Auch die Krankenschwester Kristijana Valtscheva und der Arzt Ashraf al-Hajouj seien so lange gefoltert worden, bis ihre Aussagen übereinstimmten, berichtete Nenova weiter. Die 55 Jahre alte Krankenschwester Sneschana Dimi­trova habe man an ihren zusammengebundenen Händen unter einem Türrahmen aufgehängt.

Vor der Ausreise mussten die Krankenschwestern und der Arzt ein Dokument unterschreiben, das sie verpflichtet, auf Klagen gegen die Folterer zu verzichten. Europäische Diplomaten waren bei der Unterzeichnung anwesend, berichtet Le Monde, auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sei an der Aushandlung dieser Bedingung beteiligt gewesen.

Die sechs Gefangenen hatten während der Prozesse, die gegen sie geführt wurden, immer wieder ihre Unschuld beteuert. Tatsächlich dienten die gegen sie erhobenen Vorwürfe wohl nur als Vorwand, um die skandalöse Inkompetenz der ­libyschen Gesundheitsbehörden zu vertuschen. So sagten international renommierte Wissenschaftler vor Gericht aus, dass sich die Kinder schon vor der Ankunft der Krankenschwestern infiziert hätten, insbesondere wegen der un­hygienischen Verhältnisse in den libyschen Kliniken.

Die Anklage hingegen stützte sich anfänglich auf die These von Muammar al-Ghaddafi, der die Infizierungen auf eine Verschwörung von CIA und Mossad zurückführte. Später zog die Anklage diese Theorie zurück und behauptet nun, die Beschuldigten hätten illegale Medikamente an den Kindern erproben wollen, Mutmaßungen, die vor allem in den arabischen Medien gerne übernommen wurden.

Die europäische Presse schenkte den Schaupro­zessen hingegen wenig Aufmerksamkeit. Schließ­lich überwogen in den vergangenen Jahren die positiven Meldungen aus Libyen, nachdem die Regierung in Tripolis ihre Atomrüstungs­pläne aufgegeben und sich von terroristischen Aktivitäten distanziert hatte. Wohl selten gelang es dem Herrscher eines so genannten Schurkenstaats, so schnell seine internationale Reputa­tion wiederzuerlangen wie Ghaddafi.

Dabei gibt es in Libyen nach wie vor zahlreiche Fälle von Folter, und wer die Regierung öffentlich kritisiert, riskiert Kopf und Kragen. Kaum nötig zu erwähnen, dass die Medien der absoluten Kontrolle des Staates unterliegen. In der von der Organisation »Reporter ohne Grenzen« erstellten Rangliste der Pressefreiheit befindet sich Libyen auf Platz 152, kurz vor Syrien und direkt nach Weißrussland.

Doch solche Meldungen scheinen weder die Europäische Union noch den französischen Präsidentensonderlich zu stören. Sie wollen offensichtlich um jeden Preis ein besseres Verhältnis mit Ghaddafi erreichen. Der portugiesische Außenminister und derzeitige EU-Ratspräsident, Luís Amado, sprach vergangene Woche sogar von »einer neuen Ära in den Beziehungen zwischen der EU und Libyen«. Als Zeichen für die guten Absichten sollen libysche Staatsangehö­rige künftig Visa für die Schengen-Staaten erhalten und EU-Bürger ohne Visa nach Libyen reisen können.

Nach den Gründen für das europäische Wohlwollen für die libysche Diktatur muss man allerdings nicht lange suchen. Bereits im Juni hatten sich die Innenminister der EU darauf verständigt, in der Flüchtlingspolitik mit der Regierung in Tripolis zusammenzuarbeiten. Ohne libysche Unterstützung wäre es kaum möglich, die Außengrenzen der EU im Mittelmeer zu kontrollieren.

Die »konkrete Kooperation« beinhaltet unter anderem die Ausbildung von libyschen Grenz­polizisten, die bereits im Vorfeld afrikanische Einwanderer abfangen sollen. Die Pläne dienten dazu, »das schreckliche Verbrechen des Menschen­handels zu bekämpfen und illegale Einwanderung zu verhindern«, erklärte der EU-Kommissar für Justiz und Innenpolitik, Franco Frattini. Damit solle »europäische Solidarität mit Menschen gezeigt werden, die verzweifelt versuchen, nach Europa zu gelangen«. Um dieses noble Anliegen zu unterstützen, hatte Italien in den vergangenen Jahren bereits Radargeräte, Helikopter, Boote und Jeeps zur Grenzüberwachung nach Libyen geliefert.

Hinzu kommt, dass der nordafrikanische Staat ein lukrativer Absatzmarkt ist. Das Land weist nach dem jahrelangen Boykott einen immensen Nachholbedarf auf und verfügt zugleich über die achtgrößten Ölreserven der Welt. Insbesondere die Infrastruktur muss erneuert und ausgebaut werden, ebenso die Telekommunikation und die Finanzbranche. Zudem soll die Ölproduktion in den nächsten Jahren verdreifacht werden.

Die EU hat bereits bekundet, dass sie den Handel noch einfacher gestalten will. Spezielle Abkommen werden in Aussicht gestellt, die, wie im Fall von Marokko, in einen Freihandel münden könnten. Neben Italien gehören dabei Deutschland, Großbritannien und Frankreich zu den wich­tigsten europäischen Wirtschaftspartnern. Wie gut diese EU-Staaten schon jetzt verdienen, zeigt der geplante Waffendeal, an dem der deutsch-französische Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS beteiligt ist. Seine Tochterfirma MBDA, an der neben Frankreich auch Großbritannien und Italien Anteile besitzen, hatte das Abkommen über die Lieferung von Panzerabwehrraketen fertiggestellt.

Beste Aussichten also, dass die Annäherung zwischen Libyen und der EU voran kommt. Mit der Freilassung der bulgarischen Krankenschwestern und des Arztes sind offensichtlich die letzten Hemmungen gefallen. Die EU habe deren Leid nie vergessen, hatte Ferrero-Waldner kurz nach ihren Gesprächen in Tripolis verkündet. Mittlerweile versteht man auch wieso.