Der Genozid in Ruanda

Wenn der Nachbar ein Mörder ist

In Ruanda warten noch etwa 66.000 Genozidverdächtige hinter Gittern auf ihren Prozess. Auf verschiedenen Wegen wird versucht, die Täter zu bestrafen und erste Schritte zur Versöhnung zu initiieren.

Kigali. Die genaue Zahl der Täter kennt niemand. Die Hutu-Oligarchie, die den Völkermord im Jahr 1994 plante und betrieb, bemühte sich, möglichst viele Menschen an den Morden zu beteiligen. Neben regulären Soldaten waren insbesondere paramilitärische Verbände wie die Interahamwe und Nachbarschaftsmilizen für die Massaker verantwortlich. Vom eigenen Nachbarn ermordet zu werden, war während der 100 Tage, in denen mindestens 800.000 Menschen getötet wurden, eher die Regel als die Ausnahme.

Nach dem militärischen Sieg der von Tutsi dominierten Guerillatruppe FPR (Front Patriotique Rwandais) stellte sich die Frage, wie man mit den Tätern verfahren sollte. Ende 1994 saßen etwa 100.000 Verdächtige in den überfüllten Gefängnissen, während gerade einmal 20 Gerichtshöfe im Land wieder funktionsfähig waren.

Gelöst ist das Problem noch immer nicht. Die Regierung Paul Kagames wird von der Bevölkerungsmehrheit als Oligarchie der Tutsi wahrgenommen, die Internierung und Strafverfolgung von Verdächtigen als »Siegerjustiz« interpretiert. Die zivilen Opfer, die auf das Konto des FPR gehen, sind nie Gegenstand juristischer Untersuchungen geworden. Praktisch täglich wird in den regierungstreuen Zeitungen und im staatlichen Fernsehen an die 100 Tage des Genozids erinnert, implizit soll damit die Legitimation der Regierung festgeschrieben werden.

Über Verbrechen des FPR zu sprechen oder Unmut über die Regierung zu äußern, ist in Ruanda praktisch unmöglich, das Ausmaß staatlicher Kontrolle, Angst und Obrigkeitshörigkeit lassen kritische Stimmen verstummen. Andererseits ist es dem autoritären Staat gelungen, eine Reorganisierung rechtsextremer Hutu-Milizen weitgehend zu verhindern. Allerdings kommt es immer wieder zu Übergriffen gegen rescapés (Überlebende), 20 von ihnen wurden im vergangenen Jahr ermordet. Die Regierung steht vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, einerseits dem Bedürfnis der Überlebenden nach Gerechtigkeit entgegenzukommen, andererseits die Bevölkerungsmehrheit der Hutu zufriedenzustellen und die Gefängnisse zu leeren.

Gegenwärtig existieren drei Instanzen, die für die juristische Aufarbeitung des Genozids zuständig sind: der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) im tansanischen Arusha, die regulären ruandischen Gerichte sowie die Gacaca-Tribunale. Das ICTR wurde im November 1994 von den Vereinten Nationen gegründet, um die Hauptverantwortlichen zu bestrafen. Seitdem wurden 33 Urteile gesprochen und 28 Haftstrafen zwischen sechs Jahren und lebenslänglich verhängt, fünf Angeklagte wurden freigesprochen. Derzeit werden 29 Fälle in Arusha verhandelt, bis zum Jahr 2010 sollen alle Prozesse und Berufungsverhandlungen abgeschlossen sein.

Verbände der rescapés wie Avega und Ibuka kritisieren, dass das Tribunal mit dem recht hohen Budget von 250 Millionen US-Dollar allein für die Jahre 2006 und 2007 ausgestattet wurde, obwohl die Zahl der Verfahren gering ist. In Ruanda warten noch 66.000 Gefangene auf einen Prozess.

Es hat sich als unmöglich erwiesen, gegen alle Angeklagten vor regulären Gerichten zu verhandeln. Die Regierung hat sich deshalb für ein Kompromissverfahren entschieden. Es soll garantieren, dass die Täter nicht straflos davonkommen, die Gefängnisse möglichst schnell leeren und zudem zur Versöhnung beitragen. Im Jahr 2001 wurde das Gacaca-Gesetz erlassen, das die Verbrechen des Genozids in drei Kategorien unterteilt. Organisatoren und Rädelsführer der Morde sowie Vergewaltiger werden unter der ersten Kategorie zusammengefasst, gegen die Angeklagten wird vor regulären Gerichten verhandelt. Verbrechen der zweiten (Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge) und dritten Kategorie (Plünderungen) fallen unter die Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte.

Gacaca bedeutet Rasen, im übertragenen Sinn war es im vorkolonialen Ruanda der Begriff für ein Instrument der Konfliktschlichtung, dessen Ziel der Ausgleich war. Morde wurden in diesem Rahmen nicht verhandelt. Seit Juli 2006 werden die Gacaca-Verfahren landesweit durchgeführt, etwa 12 000 derartige Tribunale gibt es insgesamt. Neun Personen werden von der lokalen Bevölkerung zu den »Integeren« gewählt und dann in einer Woche zu Laienrichtern ausgebildet. Als Bezahlung erhalten sie lediglich eine staatliche Krankenversicherung. Anwälte sind nicht vorgesehen, die Beschuldigten müssen sich selbst verteidigen. Einmal in der Woche finden die Verhandlungen in jeder Gemeinde statt.

Erst der Besuch der Prozesse lässt ausländische Besucher begreifen, dass die Grausamkeiten des Genozids, die Morde, das Denunzieren der eigenen Nachbarn, manchmal eigener Familienmitglieder, während der 100 Tage durch die Gacacas im Alltagsleben der Ruander präsent gehalten werden. Das Leben der überwiegenden Mehrheit der unzähligen Europäer und Amerikaner in Kigali ist davon nicht betroffen, der Alltag in der florierenden Hauptstadt scheint parallel zu der Lebenswelt der Menschen auf dem Land zu verlaufen.

»Meiner Meinung nach sind alle froh, wenn Ende des Jahres die Gacaca-Prozesse zu Ende gehen, rescapés wie Täter«, meint Emillienne Mujawayo, Mitglied der NGO Anwälte ohne Grenzen. »Die genocidaires und ihre Familien haben stets Angst, aufgrund neuer Zeugenaussagen angeklagt zu werden. Und die Überlebenden erhoffen sich ohnehin schon seit langem keine Gerechtigkeit mehr von den Prozessen.«

Die Geständnis- und Vergebungsklausel der Gacaca-Gerichte sieht eine Reduzierung der regulären Strafe für Mord (25 bis 30 Jahre) auf sieben bis zwölf Jahre vor, doch nach der Hälfte der Haftzeit kann der Verurteilte gemeinnützige Arbeit leisten. Dementsprechend kommt die Mehrheit der Täter nach den Prozessen sofort in Freiheit, während die Aussagebereitschaft der Überlebenden immer mehr abnimmt.

Repräsentanten von Anwälte ohne Grenzen beobachten die Gacaca-Prozesse stichprobenartig und veröffentlichen monatlich einen Bericht. Insgesamt stellt die internationale Organisation dem Gacaca-System ein zufriedenstellendes Zeugnis aus, trotz zahlreicher Fälle von Freisprüchen nach Geldzahlungen an die Richter, Einschüchterungen von Zeugen und zahllosen offensichtlich abgesprochenen Entlastungsaussagen.

»Das Problem ist, dass es einfach keine Alternative zu den Gacacas gibt, es sei denn, man lässt einfach alle Mörder direkt frei«, meint Joseph Kagarire von Ibuka, selbst ein Überlebender. »Ohnehin wird es in unserer Generation keine wirkliche Vergebung und Versöhnung geben, auch wenn es der Staat von uns verlangt. Wir können nur hoffen, dass unsere Kinder eines Tages nicht mehr in den Kategorien von Hutu und Tutsi denken.«

Ursprünglich sollten alle Gacaca-Verfahren bis zum Jahresende abgeschlossen sein. Angesichts der zahlreichen noch ausstehenden Fälle wird der Prozess der juristischen Aufarbeitung aber noch wesentlich länger dauern. Schenkt man den Angaben der Regierung Glauben, sind die Bevölkerungsgruppen weitestgehend versöhnt und die Kluft zwischen Hutus und Tutsis wurde überwunden. Die Realität in den ruandischen Dörfern und Städten sieht jedoch anders aus. Immerhin existiert derzeit eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz, doch eine Zukunft ohne Massaker garantiert das noch nicht.