»Der Aufstand droht, Kenia um Jahre zurückzuwerfen«

Ngugi wa Thiong’o, Schriftsteller

Als Sohn eines Bauern 1938 in Kenia geboren, wurde Ngugi wa Thiong’o zu einem der bedeutendsten Schriftsteller Ostafrikas. Seine Romane und Theaterstücke, die sich vor allem mit der britischen Kolonialpolitik und der postkolonialen Herrschaft der Moi-Regierung beschäftigen, wurden weltweit ausgezeichnet. 1977 wurde Ngugi als führender Oppositioneller verhaftet, seine Werke wurden verboten. Anfang der achtziger Jahre fand er in Großbritannien Asyl. Als er 2004 erstmals wieder Kenia besuchte, wurde er überfallen und gefoltert, seine Frau wurde vergewaltigt. Ngugi brach seine Lesereise ab und kehrte in die USA zurück, wo er mittlerweile Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von Kalifornien ist. Das Interview wurde per E-Mail geführt. interview: doris akrap

Als Mwai Kibaki Präsident wurde, sind Sie 2004 nach über 25 Jahren Exil nach Kenia zurückgekehrt. Hatten Sie damals gehofft, dass sich unter der so genannten Regenbogenkoalition demokratischere Verhältnisse etablieren würden?

Jeder hatte damals gehofft, dass sich die Bedingungen zum Besseren ändern würden. Politisch betrachtet herrschte in der kenianischen Ge­schich­te nie mehr Freiheit als in den vergangenen fünf Jahren unter Kibakis Regierung. In diesen fünf Jahren wurde niemand verhaftet, ins Exil geschickt oder getötet, weil er Kibaki oder dessen Regierung kritisierte. Kibakis Politik kann man als liberalen Kapitalismus bezeichnen. Innerhalb dieses Rahmens versucht Kibaki die Möglichkeiten der Demokratie zu vermitteln. Auch ökonomisch gab es große Erfolge, Infrastruktur und Institutionen wurden wieder aufgebaut. Selbstverständlich gab es Korruptionsskandale und andere schreckliche Anleihen aus der Ära des Diktators Daniel arap Moi. Aber in mei­nen Augen war die Regierung auf dem richtigen Weg. Doch anlässlich des fragwürdigen Wahl­ergebnisses entstand ein Aufruhr, der von den Eliten einzelner ethnischer communities maß­geblich angeschoben wurde. Dieser Aufstand droht Kenia um Jahre zurückzuwerfen, da er von einer Einstellung geleitet wird, die dem Motto »Nimm dir, was du kriegen kannst« folgt.

Welche Rolle spielen ethnische Zugehörigkeiten unter den Protestierenden?

Ich habe keinen Zweifel daran, dass ethnische Gefühle von den Millionärseliten, die um die Macht kämpfen, aufgepeitscht wurden. Die Gegenwart ist vom Kolonialismus und seinen Nachwirkungen immer noch stark beeinflusst. Es war schließlich der Kolonialismus, der den Tribalismus als ein Instrument der Teilung erfunden hat. »Teile und herrsche« war das Motto aller Kolonialisten, sei es der Deutschen, der Engländer oder der Franzosen. Die koloniale Politik der kenianischen und afrikanischen Elite verfolgt die schlimmsten Traditionen der kolonialen Vergangenheit weiter. Unglücklicherweise sind es die Armen, die dazu gebracht werden, die Armen zu bekämpfen. Diese Situation wird schon in einem bekannten Sprichwort beschrieben: Wenn zwei Elefanten kämpfen, leidet das Gras darunter.

Inwiefern sind die Proteste in Kenia auch ein Ausdruck sozialer Unzufriedenheit?

Wie im Rest der Welt erweitert und vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich jeden Tag. Das zweifellos große ökonomische Wachstum in den vergangenen fünf Jahren hat auf den größten Teil der Bevölkerung keine Auswirkungen. Auf Kenias Straßen herrschen Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut. Die Jugend und die Schulabgänger im Allgemeinen sind diejenigen, die mit der Situation am unzufriedensten sind.

Während 40 Prozent der Kenianer unter 14 Jahre alt ist, kommen führende Politiker weiterhin aus der ersten Generation nach der Unabhängigkeit 1963. Wann wird der Generationswechsel stattfinden?

Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber er wird kommen.

Welche Rolle spielt der Tribalismus unter den städtischen Jugendlichen in Kenia?

Tribalismus spielte für den ganz normalen Kenianer nie eine Rolle. Tribalismus ist ein Mittel der Politik und der ökonomischen Elite der verschiedenen communities. Es ist die Elite, die sowohl das Stammesbewusstsein als auch die Feindschaft unter den verschiedenen ethnischen Grup­pen überhaupt erst erzeugt.

Zumindest in der Berichterstattung westlicher Medien wird der Eindruck erweckt, dass die politischen Trennungslinien entlang der tribalen verlaufen.

Die westlichen Medien interpretieren Ereignisse in Afrika immer nach ethnischen Kriterien. Es ist immer der Stamm A, der gegen den Stamm B kämpft. Das ist aber eine viel zu einfache Formel.

In wieweit bildet in der kenianischen Gesellschaft die ethnische community das soziale Netzwerk?

Die communities sollten auf ihre Sprache und die positiven Aspekte ihrer Kultur stolz sein. Sie sollten und müssen ein inter­ethnisches Bewusstsein entwickeln. Fortschritt und Entwicklung sollten immer von denen aus bemessen werden, die am Fuße des Berges stehen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft.

Inwiefern ist die politische Gegenwart in Kenia eine Folge des Kolonialismus?

Kenia hat eine 24jährige brutale Diktatur von Daniel arap Moi hinter sich, die Infrastruktur und Institutionen zerstörte. Das ökonomische Wachstum kam fast zum Stillstand. Die Moi-Diktatur wirkte wie ein Krebs auf die ökonomische, politische und soziale Struktur der Gesellschaft. Trotz der Abwahl von Moi im Jahre 2002 hatte das Kibaki-Regime in den vergangenen fünf Jahren mit den Auswirkungen der brutalen Herrschaft und der ethnischen Trennung, die Moi unterstützt hatte, zu kämpfen. Moi hatte die Gesellschaft so sehr nach rechts getrieben, dass viele der politischen Parteien mit seiner Politik übereinstimmten. Es gibt immer noch moistische Elemente in Kenia. Der moistische Krebs, der in den vererbten kolonialen Praktiken wurzelt, muss in der kenianischen Gesellschaft radikal bekämpft werden.

Würden mit dem Oppositionsführer Raila Odinga als Präsident diese Praktiken zurückgedrängt werden?

Alle Kenianer müssen an einer größeren inter­ethnischen Verständigung und gegenseitigen Anerkennung arbeiten. Die ganze Welt sollte jede Partei oder Regierung verurteilen, die ein Programm des Hasses oder der Isolation anderer Gruppierungen verfolgt.

Was würde sich ändern, wenn Odinga Präsident werden würde?

Keine Ahnung.

Sie und Ihre Frau wurden bei Ihrem Besuch im Jahr 2004 brutal überfallen und misshandelt. Können Sie sich vorstellen, noch einmal nach Kenia zurück zu gehen?

Kenia ist unser Land. Meine Frau und ich sind ein Teil der Millionen Menschen, die die kenianische Gesellschaft bilden. Ich wollte immer daran glauben, dass meine Bücher ein wenig dazu beitragen, ein besseres Verständnis unserer Gesellschaft in Kenia, Afrika und dem Rest der Welt zu verbreiten. Wir kämpfen für die Befreiung unserer Ökonomie und unserer Ressourcen von der Fremdherrschaft und um die ökonomische und politische Ermächtigung der Arbeiterklasse von Kenia und Afrika.