Vom Ein- zum Kein-Parteien-Staat

Die oft verwirrenden Konstellationen in Kenia täuschen darüber hinweg, dass die politische Szene von Politikern dominiert wird, die seit Jahrzehnten aktiv sind. Sowohl Präsident Kibaki als auch Oppo­si­tions­führer Odinga haben bereits in den früheren Diktaturen Ämter bekleidet. von alex veit
Von

Die Farbe Orange wurde von Kenias Opposition als Symbol des friedlichen politischen Wandels gewählt, denn auch in Afrika kennt man die Bilder von der »orangenen Revolution« in der Ukrai­ne vor etwas mehr als drei Jahren. Obwohl politische Ereignisse in Afrika hierzulande gemeinhin als grundlegend anders und exotisch wahrgenommen werden, versuchen afrikanische politische Bewegungen durchaus, sich in globale Entwicklungen einzuordnen, ihre Mittel zu nutzen und von der Kraft ihrer Symbole zu profitieren.

In Kenia gewann vermutlich Raila Odinga, Kopf des »Orange Democratic Movement«, die Präsidentschaftswahlen vor zwei Wochen gegen den amtierenden Präsidenten Mwai Kibaki. Doch wie im Jahr 2005 in Äthiopien und Togo ist der Versuch eines demokratisch legitimierten Machtwechsels vorerst an der Gewaltbereitschaft der Regierung gescheitert.

Offiziell wurde verkündet, der Amtsinhaber Kibaki habe sich gegen Herausforderer Odinga mit 46 zu 44 Prozent der Stimmen durchgesetzt. Während in den großen Städten starke Polizeikräfte friedliche Demonstrationen gegen den im In- und Ausland kritisierten Wahlbetrug verhinderten oder auflösten, kam es in verschiedenen Dörfern und Großstadtslums zu Schießereien zwischen zivilen Anhängern der verschiedenen politischen Lager, zu Massakern und Morden. Bei der Verhinderung dieser Gewalttaten hielten sich die Ordnungskräfte erkennbar zurück.

Der traurige Höhepunkt war zwei Tage nach Verkündung der angeblichen Wahlergebnisse erreicht, als 30 Men­schen, darunter viele Kinder, in einer von einem Mob in Brand gesteckten Kirche in der Oppositionshochburg Eldoret umkamen. Insgesamt verloren seit der Wahl mehr als 600 Menschen ihr Leben, mindestens 250 000 wurden zu Vertriebenen im eigenen Land, in den Krankenhäusern herrscht Notstand.

Nach einer Woche der Gewalt bot zuerst Kibaki seinem Konkurrenten Odinga die Bildung einer gemeinsamen Regierung an, was dieser allerdings ablehnte. Am Montag dann erklärte Odinga, er könne sich für einen Zeitraum von drei Monaten solch ein Bündnis vorstellen, allerdings nur zu dem Zweck, bis dahin reguläre Neuwahlen vorzubereiten. Eine geplante Großdemons­tration seiner Oppositionsbewegung sagte er vorerst ab.

Politik hängt in Afrika noch immer stärker von der Macht der Gewehre ab als von der Legitimation durch Wahlen. Doch zugleich zeigen die Auseinandersetzungen in Kenia, dass die Gesellschaft sich verändert und die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie von keiner Regierung mehr ignoriert werden können. »Wie können sie auf diese Art den Kolonialismus wieder einführen?« zitiert die Agentur Reuters einen jungen Mann, der von Tränengas, Wasserwerfern und bewaffneter Polizei an der Teilnahme an einer Oppositionsdemonstration in der Hauptstadt Nairobi gehindert wurde. »Früher hatten wir lange Haare und Röcke, aber jetzt sind wir die Dotcom-Generation. Wir können Mathematik, und wir wissen, wen wir gewählt haben.«

In der Tat haben die neuen technischen Möglichkeiten die Wahlfälschung deutlicher und schnel­ler als bei früheren Urnengängen sichtbar gemacht. Über SMS, das Internet, aber auch private Radiosender und Tageszeitungen wurden die Unstimmigkeiten zwischen lokalen Stimmenauszählungen und zentral verkündeten Wahlergebnissen im Land bekannt gemacht. Daran konnte auch ein Verbot von Live-Sendungen und Hörerkommentaren im Radio, das die Regierung nach der Wahl erließ, nichts mehr ändern. Die meisten kenianischen Medien haben das Dekret weitgehend ignoriert.

Die Medien waren es auch, die dem Wunsch nach einer friedlichen Lösung des Konflikts am deutlichsten Ausdruck verliehen. Am Donnerstag voriger Woche titelten sowohl die der liberal-islamischen Genfer Aga-Khan-Stiftung gehörende kenianische Tageszeitung Nation als auch der ebenfalls regierungskritische Standard mit der Schlagzeile »Rettet unser geliebtes Land«. Die wichtigsten Radiosender schlossen sich dem Aufruf an, vor allen weiteren Verhandlungen die um sich greifende Gewalt zu beenden.

Der Wunsch nach friedlichen Politikformen wird vor allem von der für afrikanische Verhältnisse vergleichsweise großen kenianischen Mittelschicht getragen. Wegen ihrer prekären Stellung zwischen der extrem wohlhabenden, aber winzigen politisch-ökonomischen Oberschicht und der riesigen Mehrheit der Mittellosen hat sie am stärksten wirtschaftliche Nachteile von einem dauerhaften bewaffneten Konflikt zu befürchten. Seit dem Antritt der Regierung Kibaki 2002 zeichnet sich das Land durch stabile hohe Wachstumsquoten aus, die allerdings nur einer Minderheit zugute kommen. Diese Entwicklung scheint nun gefährdet. »Unser geliebtes Land ist eine ausgebrannte, qualmende Ruine«, hieß es im Leitartikel der Nation. »Die Wirtschaft steht praktisch still, und die Armeen der Zerstörung marschieren.«

»No Raila, no peace«, skandierten hingegen die oft jugendlichen Anhänger von Oppositionskandidat Raila Odinga, die vornehmlich in den von der Opposition dominierten Slums von Nairobi, aber auch im westlichen Landesteil auf die Straßen gingen. Neben dem Protestieren nutzten viele Bewohner der Armenviertel die Gelegenheit auch, um sich an Plünderungen zu beteiligen. Im westkenianischen Kisumu wurden ganze Supermärkte ausgeräumt und angezündet.

Dass sich der Protest schnell in militante Auseinandersetzungen zwischen Zivilisten verwandelte, ist vor allem auf die Verbreitung informeller Milizen zurückzuführen, die seit den neunziger Jahren entstanden sind und die nun die organisierte Basis für die Auseinandersetzungen bildeten. Rivalisierende Banden wie die Sekte »Mungiki« und die so genannten Taliban in Nairobi entstanden ursprünglich als Bürgerwehren, nachdem die Polizei die Sicherheit nicht mehr garantieren konnte. Diese gewalttätigen Gruppen profitieren vor allem von der mafiösen Kontrolle des Nahverkehrs, zugleich propagieren sie aber auch einen gesellschaftlichen Umbruch im Sinne einer ethnischen Re-Traditionalisierung.

Neben dieser Erosion des staatlichen Gewaltmonopols fragmentierte sich auch die politische Klasse Kenias in den vergangenen Jahren, obwohl die jetzigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf nur zwei Kandidaten fokussiert waren. Seit bei den vorigen Wahlen 2002 die ehemalige Staatspartei Kanu (Kenyan African National Union) von einem losen Oppositionsbündnis abgelöst wurde, hat sich Kenia von einem Ein-Parteien-Staat zu einem Kein-Parteien-Staat gewandelt. Seitdem bilden die meist seit vielen Jahren eta­blierten Politiker ständig neue Bündnisse, die oft nur von kurzer Haltbarkeit sind. Präsident Kibaki gab sogar erst zu Beginn des Wahlkampfs bekannt, an der Spitze welcher Partei er kandidieren werde.

Vor fünf Jahren war Kibaki noch als Kandidat der so genannten Regenbogenkoalition angetreten, in der erstmals alle wesentlichen Oppositionskräfte vertreten waren. Sein damals wichtigster Partner war sein jetziger Kontrahent Odinga, mit dem eine Abmachung getroffen wurde, für ihn die Verfassung zu ändern und das Amt eines mächtigen Premierministers einzurichten. Der Bruch dieses Versprechens begründete die auch persönliche Fehde zwischen den beiden. Seitdem arbeitete Odinga auf die Ablösung Kibakis hin und gründete dazu seine »orangene Bewegung«.

Die oft verwirrenden Konstellationen täuschen darüber hinweg, dass die politische Szene von Politikern dominiert wird, die seit Jahrzehnten aktiv sind . Raila Odinga etwa stammt aus einer zentralen kenianischen Dynastie. Sein Vater Oginga Odinga war stellvertretender Präsident nach der Unabhängigkeit 1964 und vertrat trotz der marktwirtschaftlichen Politik des damaligen Regimes marxistische Ansichten. Raila Odinga selbst wurde nach einem Maschinenbaustudium in der DDR, wo er deutsch lernte und als Maoist galt, Parlamentarier in der Kanu-Diktatur. Nach einem fehlgeschlagenen Armeeputsch 1982 saß er bis 1991 im Gefängnis. Dies hinderte ihn nicht, einige Jahre später wiederum ein Bündnis mit dem Regime einzugehen, in dem er unter anderem als Minister diente. Im Wahlkampf pflegte er ein Image als unverbrauchte Kraft des Wandels.

In der Tat ist sein Rivale Kibaki einige Jahre älter und kann dementsprechend auf eine noch längere Karriere in der früheren Diktatur zurückblicken. Der amtierende Präsident war seit der Unabhängigkeit Mitglied des Parlaments und war unter anderem Vizepräsident und Finanzminister. Erst 1992 ging er in die Opposition, aus der ihm zehn Jahre später der Einzug in den Präsidentenpalast gelang. Inzwischen genießt er wieder die Unterstützung sowohl des von ihm im Jahr 2002 abgelösten Präsidenten Daniel Arap Moi als auch seines damaligen Wahlkonkurrenten Uhuru Kenyatta.

Während die politische Klasse also unter sich bleibt, wandelt sich die Gesellschaft. Einerseits zerrütten Armut, soziale Polarisierung und die zunehmende Auflösung des Gewaltmonopols die staatliche Einheit. Doch zugleich ermöglichte der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre eine Stärkung der Mittelschichten und der zivilgesellschaftlichen Institutionen und stellt eine kleine Hoffnung der Verarmten auf ein Ende ihrer Misere dar. Der offenbare Schock vieler Kenianer angesichts der eskalierenden Gewalt, die Proteste gegen die Missachtung des Wählervotums sowie die unter in- und ausländischem Druck zunehmende Verhandlungsbereitschaft der politischen Lager sind, trotz der gegenwärtigen Krise, mögliche Anzeichen einer langfristigen Konsolidierung der bürgerlichen Demokratie.