Jeder lebt für sich allein

Die Ausschreitungen nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo werden von den wenigsten Serben grundsätzlich verurteilt. Im Kosovo deutet sich die Abspaltung der serbisch bewohnten Gebiete an. von boris kanzleiter, belgrad

Die Stadtreinigung hat die Autowracks abtrans­por­tiert. Verkohlte Mülltonnen werden zur Seite geschoben. Handwerker reparieren die eingeschlagenen Schaufensterscheiben in den Fußgän­ger­zonen. Und selbst das ausgebrannte Botschafts­gebäude der USA in der Knez-Milos-Straße wird bereits renoviert. Die sichtbaren Folgen der Randale, zu der es in der vorigen Woche kam, in der Belgrader Innenstadt werden schnell übertüncht. Aber Serbien hat sich in den vergangenen Tagen verändert.

Auf allen Fernsehkanälen, auf der Titelseite jeder Zeitung, aber auch in den Gesprächen der Menschen gibt es nur noch ein wichtiges Thema: die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Fe­bruar und ihre Folgen. Dabei ist nicht Hysterie vorherrschend, sondern Besorgnis. Aber auch die Wut ist beträchtlich. Das zeigte die von der Regierung organisierte Massendemonstration am Donnerstag vergangener Woche. Nach rea­listischen Schätzungen nahmen über 300 000 Menschen an ihr Teil, um den Anspruch Serbiens auf das Kosovo deutlich zu machen. Die Atmo­sphäre war angespannt, und mehrere tausend Jugendliche wurden gewalttätig. Neben den Botschaftsgebäuden der USA, Deutschlands und Kroa­tiens beschädigten sie fünf weitere diplomatische Vertretungen teilweise schwer. Etwa 90 Geschäfte, meist Filialen westlicher Firmen, wurden angegriffen, viele von ihnen anschließend geplündert. Zahlreiche Busse und Autos brannten.

Es ist dabei nicht so sehr der Ausbruch der Gewalt, sondern das Verhalten innerhalb des politischen Systems und in der Öffentlichkeit, das den Stimmungswechsel anzeigt. Viele Bürger verurteilen zwar die Plünderungen, halten den Sturm auf die Botschaften im Grunde aber für eine »gelungene Aktion«, wie in den Kneipen kaum verhohlen dis­kutiert wird. Selbst hochrangige Regierungspoli­tiker zeigen Sympathien für die Ausschreitungen. Velimir Ilic, Minister für Kapitalinvestitionen, kommentierte die Angriffe auf westliche Einrichtungen: »Sie zerschlagen unseren Staat und wir ihnen ein paar Fensterscheiben. Das ist auch Demokratie.« Auch Andreja Mladenovic, der smarte Sprecher der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) von Premierminister Vojislav Kostunica, erklärte zu den Ausschreitungen: »Jeder normale Mensch weiß, dass der Grund dafür die unerhörte Gewalt ist, die die Weltmächte gegenüber Serbien ausüben.«

Auch Kostunica hat seine Kosovo-Rhetorik noch einmal verschärft. In drastischen Appellen warnte er die USA und den Westen vor mittelfristigen Folgen der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. »Eine Fortführung dieser Politik der Gewalt wird die Krise vertiefen. Sie untergräbt die Grundlage der Weltordnung und bedroht den Frieden und die Stabilität auf dem Balkan.« Volle Unterstützung bekommt die serbische Regierung dabei von Russland. Auch das russische Außenministerium warnt vor der »Zerstörung der Weltordnung« und nennt das Vorgehen der USA und wichtiger EU-Staaten »zynisch«.

Kern dieser Argumentation ist ein Zusammenhang, der in der westlichen Öffentlichkeit nur am Rande diskutiert und in seinen tiefgreifenden Dimensionen schon gar nicht verstanden wird. Die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch die führenden westlichen Länder schafft einen Präzedenzfall. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird das Territorium eines souveränen Staats gegen den Willen seiner Regierung zersplittert.

Der Fall Kosovo ist dabei nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder Jugoslawiens am Beginn der neunziger Jahre vergleich­bar. Damals wurden immer nur bestehende Republiken einer Föderation getrennt, ohne aber die Grenzen zwischen den Republiken zu verändern. Das Kosovo besaß in Jugoslawien aber niemals den Status einer föderalen Republik. Die unilaterale Herauslösung des Kosovo aus Serbien ist daher eine Ermunterung für militante ethno-separatistische Bewegungen mit der Forderung nach Neuaufteilung von Territorium weltweit. Kein Wunder also, dass bisher keine Regierung eines Staates mit virulenter Minderheitenproblematik das neue Kosovo anerkannt hat, während die bas­kische Eta, die Tamil Tigers auf Sri Lanka und andere Sezessionsbewegungen jubeln.

Im Kosovo selbst herrscht seit der Unabhängig­keitserklärung eine merkwürdige Situation der Unklarheit. Die kosovo-albanische Regierung von Ministerpräsident Hashim Thaci besteht darauf, dass das ganze Kosovo in Zukunft von Pristina aus regiert wird. Er kündigt an, in den mehrheitlich von Serben bewohnten Landkreisen keine »Pa­rallelinstitutionen« zu dulden. Ganz anders sieht das dagegen die serbische Regierung: Sie betrach­tet das Kosovo nicht nur rechtlich nach wie vor als ihr Staatsgebiet, sondern verstärkt auch ihre materiellen Anstrengungen, in den serbischen Gebieten Institutionen zu bilden, die von der serbischen und nicht von der kosovo-albanischen Regierung finanziert und kontrolliert werden. Es zeichnet sich eine Form der Doppelherrschaft ab.

Deutlich wird dies im serbischen Nordteil von Kosovska Mitrovica. Dort protestierten in den vergangenen Tagen beispielsweise ehemalige ser­bische Angestellte der Justizorgane vor den Gerichtsgebäuden. Sie haben nach dem Nato-Bombar­dement im Frühjahr 1999 ihre Arbeitsplätze verloren und wurden durch Personal der UN-Verwal­tung Unmik ersetzt. Jetzt fordern die serbischen Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsangestell­ten die Rückkehr an ihre früheren Arbeits­plätze. Sie verlangen außerdem, dass das Gericht in Nord-Mitrovica unter die Aufsicht des ser­bischen Justizministeriums gestellt wird. »Kosovo ist Serbien« ist auf ihren Transparenten zu lesen. In Zvecan und Leposavic, den beiden anderen großen serbi­schen Landkreisen in Nord-Kosovo, wurde dieser Schritt bereits vollzogen. Wie die Presse berich­tet, erscheinen Unmik-Angestellte bei den Gerichten dort nicht mehr zur Arbeit.

Ähnliche Entwicklungen betreffen die Polizei. Nach Berichten des Balkan Investigative Research Network verlassen serbische Beamte des bisher von Unmik kontrollierten Kosovo Police Service (KPS) ihre Arbeitsplätze. »Wie kann ich das Gesetz im Auftrag eines illegalen Regimes schützen«, klagt etwa der KPS-Polizist Dragan Nedeljkovic. »Jahrelang habe ich die Menschen im Kosovo nicht als Serben oder Albaner, sondern als Bürger betrachtet. Aber diese Unabhängigkeitserklärung ist eine Provokation, die mich dazu zwingt, eine Seite zu wählen.« Gleichzeitig erkennen die serbische Regierung und die Kosovo-Serben die neue »Rechtsstaatmission« der Europäischen Union (Eulex) nicht an. Nach Angriffen auf das Eulex-Büro in Nord-Mitrovica zog sich diese bereits aus allen serbischen Landkreisen zurück, bevor sie dort richtig Fuß gefasst hatte.

Die Distanz und das Misstrauen zwischen Serben und Albanern im Kosovo hat eine lange Geschich­te. Spätestens seit dem Ende des Nato-Bombardements leben die Bewohner der serbischen Enklaven und die albanische Mehrheit sozial und territorial weitgehend voneinander segregiert. Bisher allerdings akzeptierten die serbische Regierung und die Kosovo-Serben mit der Resolution 1 244 vom Juni 1999 die vom UN-Sicherheitsrat aufgestellte Rechtsgrundlage für das Verwaltungsregime der Unmik auch in ihren Landkreisen. Diese Klammer um serbische Enklaven und albanische Selbstverwaltungsinstitutionen in Pris­tina fällt nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nun weg.

Im Mai sollen den Absichtserklärungen der serbischen Regierung zufolge in den serbischen Landkreisen des Kosovo, gleichzeitig mit den Kommunalwahlen in Serbien, neue Gemeindeverwaltungen bestimmt werden. Das Kosovo wäre dann institutionell und territorial gespalten. Diese Entwicklung wird allerdings auf den erbitterten Widerstand kosovo-albanischer Nationalisten stoßen, die für diesen Fall bereits Gewalttaten angekündigt haben. Manche Beobachter wie der serbische Kosovo-Experte Dusan Janjic halten allerdings eine Entwicklung wie auf Zypern für möglich, wo internationale Truppen den Status quo eines gespaltenen Territoriums schon seit Jahrzehnten aufrechterhalten, ohne ihn de jure anzuerkennen.

Die Entwicklung eines »eingefrorenen Kon­flikts« könnte sogar im Kalkül mancher westlicher Diplomaten liegen. Der deutsche Kosovo-Unterhändler Wolfgang Ischinger hat die Idee der ethnischen Spaltung des Kosovo bereits im vergangenen Herbst als einen Kompromissvorschlag in die Diskussion gebracht. Er gab damit zu verstehen, dass die Spaltung eine akzeptable Möglich­keit darstellt. Würde sie tatsächlich realisiert, wäre das offizielle Kriegsziel der Nato von 1999 allerdings in sein Gegenteil verkehrt worden. Statt einer »multikulturellen Gesellschaft« würde im Kosovo unter internationalem Krisenmanage­ment die vollständige und dauerhafte ethnische Segregation durchgesetzt.