Der Buchmarkt ist die größte Bücherverbrennung

Strohfeuer

Der rechten Bücherverbrennung 1933 ging die linke des Jahres 1817 voraus. ­Beide konkurrierten sie mit der größten Bücherverbrennung aller Zeiten – dem Markt.

Die größte und effektivste Bücherverbrennung ist der kapitalistische Buchmarkt. Der Markt verbrennt die interessanten Bücher, indem er sie mit einer unfasslichen Menge uninteressanter ausstößt, vermarktet und, in beiderlei Sinn, vertreibt. 70 000 Neuerscheinungen jährlich allein in Deutschland, und weniger als zehn Prozent des Programms sorgen für 90 Prozent des Umsatzes. Der riesige Rest kommt in Ramsch und Makulatur.
Die Folgen sind bekannt; noch nie hat ein inter­essantes Buch in der Bestsellerliste geendet, es sei denn aus Versehen. Ein interessantes Buch er­kenne man daran, dass, weil es in keiner Bibliothek steht, noch nicht einmal die VG Wort für es Tantiemen ausschüttet. Mit ihm ist nichts zu verdienen, niemand liest es. Ja, es ist so interessant, dass niemand sich für es interessiert. Das treibt die engagierten Verleger in den Ruin und die intelligenten Schriftsteller ins Elend, aber der Literatur scheint es zu gefallen.

Die Literatur stelle ich mir wie Poes man in the crowd vor, ein scheues Wesen, das die Masse über alles liebt, denn sie gewährt ihm Schutz. Werden die Scheinwerfer angeknipst, ist es schon verschwunden. Möchte dieses Wesen von Elke Heidenreich wie Sauerbier angepriesen werden? – Um Himmelswillen. Möchte es in der Bestenliste neben Martin Walser stehen? – Unter gar keinen Umständen. Möchte es zu Improvisationen auf der klassischen Gitarre im Literaturhaus rezitiert werden? – Bloß nicht. Es möchte, sagen wir es offen, lieber untergehen.
Wer’s nicht glaubt, erinnere sich daran, wie un­terschiedlich sich die Literatur allein und in Gesellschaft benimmt. Wer einem Vers, einem Text zu Hause begegnet, zu dem spricht er manchmal. Schon in einer kleinen kunstsinnigen Gesell­schaft, vielleicht einem Symposion oder einem Workshop, kommt einem derselbe Vers, dasselbe Buch deplatziert vor. Und in einem Literaturprogramm des Fernsehens schließlich wirkt, was zu­vor so anmutig, gedankenreich und kühn war, geschwätzig, stumpf und fett. Aber das einzige, was die Literatur vor der Öffentlichkeit schützt, ist wiederum die Öffentlichkeit, die ihr die nö­tige Anonymität zum Atmen gibt.
Die Literatur geht aus der Bücherverbrennung des Marktes hervor wie Phönix aus der Asche. Es kommt ihr nicht auf Bücher an, schon gar nicht auf viele. Es reicht ihr ein einziger Leser. Es reicht ihr vielleicht schon ein möglicher Leser. Den Untergang des Abendlandes haben immer nur die ausgerufen, die vom Abendland haben leben wollen. Der Literatur ist das schnurz. Der Brand der Bibliothek von Alexandria hätte ihr vermutlich gut gefallen, die Bücherverbrennung 1933 schon weniger, viel zu grell, viel zu dumpf. »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.«
Diese absurde Reihe: Heinrich Mann, Ernst Glae­ser, Erich Kästner war immerhin vom Buchmarkt inspiriert. Man knöpfte sich drei linke Bestsellerautoren vor, genau von der Sorte, die Walter Benjamin in »Linke Melancholie« verspottet hat. Nun musste also Heinrich Mann, der einige ziemlich interessante Bücher geschrieben hat, aber berühmt war vor allem, weil er verfilmt wor­den ist, neben Glaeser erscheinen, der in jedem System reüssiert hätte und später auch zurückkehrte, um für die Nazis eine Luftwaffenzeitschrift zu redigieren. Die am Feuer verlesene Liste war gegen die linken Stars im Markt gerichtet.

Hätte Heinrich Mann nicht Mann, sondern Kunz geheißen, den »Professor Unrat« nicht geschrieben, sondern nur so etwas wie »Empfang bei der Welt«, wären seine Bücher nicht symbolisch den Flammen übergeben worden. Vielleicht hätte er nicht einmal ins Exil gehen müssen. Einige starke Schriftsteller haben in Deutschland überwintert, Melchior Vischer etwa, der Verfasser des genialen »Sekunde durch Hirn«, er schrieb dann mit seiner Frau Indianer- und Kinoromane. So unbekannt war er, dass er auf der schwarzen Liste schlicht vergessen wurde; und erst als er 1938 einen historischen Roman herausbringen wollte, wurde er endlich verboten. Aber Indianerromane hätte er wohl auch schreiben müssen, wäre alles seinen kapitalistischen Gang weitergetrottet.
Im kapitalistischen wie im reguliert-kapitalistischen, nämlich totalitären Markt gibt der Spießer die Norm. Aus seinesgleichen setzt sich die Gesellschaft zusammen, er bestimmt, was in den Auslagen liegt, was besprochen und verkauft wird. Die Nazis waren größenwahnsinnige Spießer. Sie dachten, sie könnten Brecht, Freud und Marx verbrennen. Aber wer das heimische Bücherbord säubert, hat deshalb noch nicht die ganze Welt gesäubert. Daraus erwuchs dann der Wunsch, Großreinetag zu machen.

Wenn nun aber hier wie da der Spießer den Markt bestimmt, wozu war dieser 10. Mai 1933 überhaupt nötig? Der Markt ist eben für einen bornier­ten Kopf stets viel zu groß. Der rechte Spießer sähe am liebsten die linken Bücher, der linke die rechten verboten. Und weder der Linke noch der Rechte kommt gut mit dem Nihilismus zurecht, der dem Markt eigen ist, welcher zwar das Exzellente nicht ganz verschmäht, aber in einen Trog mit Abfall wirft, und der zwar dem Bedürfnis nach Gemütlichkeit nachkommt, aber sie mit Pornographie flankiert. Weil der Spießer beschränkt ist, wünscht er, dass der Markt, der ihm doch bereits zu Diensten ist, reguliert sei. Der Markt lässt sich zwar manipulieren, doch nicht auf Dauer. All die Schriftsteller, die die Nazis ins Rennen schickten, waren pünktlich 1945 vergessen, man musste sie nicht mal verbieten: Hans Grimm, im Dritten Reich durchaus populär, augenblicklich von der Bildfläche verschwunden, Will Vesper, vor 1933 und nach 1945 bei Bertelsmann, noch immer verlegt, nur mehr Adresse für Unentwegte. Die Benn und Jünger, die noch gefeiert werden, haben seinerzeit nicht viel verkauft.

Dass alle dasselbe lesen sollten wie man selbst, ist ein Grundgedanke der Bücherverbrennung. Es gibt ihn in jeder Couleur, meist kommt er aber über die übliche Zensur nicht hinaus. Man kennt das bürgerliche Kind, dessen Lektüre vorgekostet wird. Man kennt die Kampagnen gegen Schmutz und Schund aus den Fünfzigern. Es muss aber noch ein zweiter Grundgedanke hinzukommen, damit die Flammen in den Himmel schießen: ein neuer Staat, der für eine Abschottung nach außen und eine Regulierung des Marktes sorgt. Zensur plus Regulierung gleich Bücherverbrennung, jedenfalls in der klassischen, antikapitalistischen Manier.
Es ist ein genuin totalitäres Syndrom und hat es in linken Diktaturen ebenso gegeben, auch wenn diese keine Vorliebe für Feuer und Flammen haben. Aber selbst dieses Symbol ist ursprünglich links codiert. Am 18. Oktober 1817 entzündeten Burschenschafter auf dem ersten Wartburgfest ein großes Feuer. Hinein warfen sie alles, was ihnen nicht gefiel, Zöpfe, Uniformen, aber auch etliche Bücher.
Diese Studenten waren Deutschtümler, völkisch gestimmt, und doch waren sie Linke im tradi­tionellen Sinn, aufmüpfig gegen die Militärdik­taturen sowohl in Preußen als auch in Österreich, Antiimperialisten, bevor es das Wort gab. Deshalb verbrannten sie den Code Napoléon, das Gesetzbuch der Großmacht, wie sie heute die US-amerikanische Flagge verbrennen. Allerhand Trak­tate und Polemiken gegen die Burschenschaft flogen hinterher und schließlich die Schriften von weltläufigen Unterhaltungsschriftstellern wie Carl Leberecht Immermann und August von Kotze­bue. Kotzebue war so etwas wie der Kästner seiner Zeit, obwohl ich ihn diesem vorziehen würde, gehobener Boulevard, flott und keck, nichts Besonderes, aber auch nicht langweilig. Er war der Schriftsteller für den urbanen Spießer, und niemanden hasst der Spießer vom Lande so sehr wie diesen.
Wie die Geschichte weiterging, ist bekannt. Der Student Karl Ludwig Sand suchte Kotzebue auf und streckte ihn durch mehrere Dolchstiche ins Gesicht und in die Brust nieder. In des Studenten Tasche fanden sich das Johannesevangelium und Theodor Körners Gedichtsammlung »Mit Leyer und Schwert«, unterstrichen hatte er sich darin: »Der Freiheit eine Gasse! – Wasch die Erde,/ Dein deutsches Land, mit deinem Blute rein!« Als Goethe von der Bluttat erfuhr, seufzte er erleichtert auf, in ihr sei »eine gewisse notwendige Folge einer höhern Weltordnung erkennbar«. Er nahm es Kotzebue sehr übel, dass er erfolgreicher war als er. So mögen im Mai 1933 etliche aufgeatmet haben, die der Markt benachteiligt hat.

Sollte der grauenhafte Mord an Kotzebue tatsäch­lich den Lustspieldichter beseitigen? Und hatte die Ermordung Theodor Lessings am 31. August 1933 etwas mit seiner Literatur zu tun? Wollten die patriotischen Burschenschafter in Kotzebue nicht vor allem den russischen Generalkonsul treffen und die SA-Schergen in Lessing den Mann, der ihren alten Hindenburg beleidigt hat? Gewiss, und das zeigt, dass »Zensur« noch zu diffus ist, um zu beschreiben, was hier vor sich geht. Zensiert werden soll ja nicht die Literatur, sondern eine Gesinnung. Weder Rechte noch Linke lesen Literatur, sie haben nicht die geringste Beziehung zu ihr, sondern suchen überall, selbst noch in Gedichten, nach dem Leitartikel. Gefällt er ihnen nicht, wollen sie ihn verbieten. Damit nicht genug, möchten sie den Mann auslöschen, der ihn geschrieben hat.
Dies alles trifft auf den Markt nicht wirklich zu. Er funktioniert zwar nach der Art einer Neutronenbombe, lässt den Dichter verhungern, die Dichtung bestehen. Aber ganz sicher zensiert er nicht. Wenn es nach ihm ginge, erschiene alles, was nur je einer für die Veröffentlichung vorgesehen hat, im Druck. Mit der Durchsetzung von Print on Demand wird genau das eintreten, trotz Monopolisierung, trotz Hugendubel. Je größer der Markt wird, umso sicherer darf sich die Literatur fühlen. Und solange sie nicht wieder mit den Zündhölzern fuchteln, wird hin und wieder die Nadel im Heuhaufen gefunden werden.