Heiko Schlesselmann im Gespräch über die Fans des FC St. Pauli

Suff statt Spiel

Das Herz von St. Pauli schlägt in der Brigittenstraße 3. Dort hat der europaweit bekannte »Fan-Laden« seinen Sitz, dort laufen die Aktivitäten der Fans des FC St. Pauli zusammen. Seit 1990 gibt es die vom FC St. Pauli unabhängige Einrichtung. Ihre Mitarbeiter sehen sich als Vertreter und kritische Beobachter der Fans des FC St. Pauli und als Vermittler zwischen Fans und Verein. Unter anderem machten sie durch ihren Einsatz für Fan-Rechte und gegen Rassismus von sich reden. Einer von ihnen ist Heiko Schlesselmann. In den vergangenen siebeneinhalb Jahren war er Mitarbeiter des Fan-Ladens und gleichzeitig Fanbeauftragter des Vereins. Jetzt hört er auf. Mit der Jungle World sprach er über die Gründe für seinen Ausstieg.

Herr Schlesselmann, Fanbeauftragter beim FC St. Pauli zu sein, klingt nach einem großartigen Job für einen Fußball-Interessierten. Sie waren bei Ihrem Lieblingsverein angestellt, konnten die Vereinspolitik mitgestalten und hatten so viel wie kaum ein anderer mit den Fans zu tun. Warum hören Sie jetzt auf?

Am Anfang war es tatsächlich ein Traum. Ich konnte mich für die Rechte von Fußballfans einsetzen, für die Mitbestimmung von Fans im Verein streiten – alles das, was ich ohnehin gemacht hätte. Aber irgendwann hat es genervt, die ewig gleichen Kämpfe immer wieder neu aufrollen zu müssen. Ständig musste ich mich in Situationen engagieren, die mir einfach zuwider waren.

Was für Situationen waren das vor allem?

In erster Linie die Vermittlung in Krisensitua­tio­nen, also bei Heim- oder Auswärtsspielen die Auseinandersetzung mit der Polizei. Da fasst man sich teilweise an den Kopf, mit wie viel Dummheit und Ignoranz manche Polizisten gesegnet sind und mit wie vielen Situationen man sich herumärgern muss, die von der Polizei aus­gelöst werden.

Haben Sie ein Beispiel?

Dutzende! Ich will es mal allgemein sagen: Als ich als Fanbeauftragter angefangen habe, konnte man morgens am Gastspielort ankommen und mit seinen Freunden noch gemütlich was essen und trinken gehen. Polizei war kaum zu sehen. Jetzt schreibt dir die Polizei vor, wann du in der Stadt ankommen musst. Dann wirst du entweder direkt am Bahnhof eingekesselt oder in Bus­se gesteckt und zum Stadion gefahren – wo du den Stadionbereich nicht verlassen darfst. Fans werden nicht mehr als Gäste gesehen, sondern als Sicherheitsrisiko. Und zwar alle Fans. So ent­steht Wut auf die Polizei, und ich habe einfach keine Lust mehr, da zu vermitteln.

Diese Begegnungen mit der Polizei haben Sie als Fußballfan nicht exklusiv.

Stimmt, aber Fußballfans sind von Repressionen besonders stark betroffen, weil sie keine Lobby haben. Bei Demos sind oft brave Bürger und Gewerkschaften dabei, deshalb muss sich die Polizei dort zurückhalten. An Fußballfans aber können neue Maßnahmen und Taktiken ganz einfach ausprobiert werden, ohne dass es einen großen Aufschrei gibt.

Sind Sie denn rechtlich gegen bestimmte Maß­nahmen vorgegangen?

Ja, und es gibt bundesweit jede Menge Urteile, die Vorgehensweisen der Polizei für unzulässig erklärt haben. Dass Frauen sich bei der Kontrolle vor dem Stadion komplett ausziehen mussten, zum Beispiel. Oder dass die Polizei nach einem Heimspiel unseren Fanladen wegen eines harm­losen Vorfalls stürmte. Oder dass ganze Bus­ladungen wegen der Vergehen Einzelner für die Dauer eines Spiels auf Wachen festgehalten wurden. Alles nicht zulässig. Nur: Wenn man klagt, ist es eh zu spät. Erst mal können sie’s ja machen, und danach interessiert sich kein Mensch dafür.

Beim aggressiven Auftreten einiger Fangruppen könnte manchem der Gedanke kommen, dass der harte Kurs der Polizei eine gewisse Berechtigung hat. Schwächt es Ihre Position, wenn im Osten Deutschlands bewaffnete Fuß­ballfans aufeinander losgehen?

Teilweise schon, weil die Medien solche Vorfälle verallgemeinern. Aber jede Fangruppe ist anders, jedes Spiel ist anders, und jede Situation am Spieltag ist anders. Da erwarte ich mehr Feingefühl bei der Polizei. Wenn Dresden auswärts fährt, fahren die anders auswärts als St. Pauli, HSV oder Dortmund. Darauf sollten die Sicherheitsbehörden reagieren und nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.

Aber Sie bestreiten nicht, dass es höchst unsympathische Fußballfans gibt, denen man am Spieltag besser aus dem Weg gehen sollte?

Natürlich nicht. Ich bin gegen Gewalt und finde es unerträglich, wenn sich Fangruppen unter der Woche gegenseitig auflauern und es am Wochen­ende zur Eskalation der Gewalt kommt. Aber dagegen kann man doch nicht nur mit Verboten angehen. Man muss auch sehen, dass es in Leipzig nur ein Fanprojekt mit einem Mitarbeiter für zwei Vereine mit rivalisierenden Fans gibt, oder dass Dresden nur mit Mühe und Not ein Fanprojekt aufgebaut hat. Da sollte man vielleicht mal nicht für Tausende von Euro eine Drohne für Überwachungsflüge über dem Stadion kaufen, sondern lieber soziale Arbeit finanzieren.

Wie steht es denn um die in linken Kreisen beliebte und stets hoch gelobte St.-Pauli-Fan­szene? Wie hat die sich während Ihrer Amtszeit entwickelt?

Ich finde, es hat eine Alkoholisierung der Fan­szene stattgefunden. Gerade bei Auswärtsfahrten ist vielen der Suff wichtiger als das Spiel. Hauptsache, man hat am Hauptbahnhof schon die erste Flasche Korn getrunken. Das ekelt mich an. Außerdem beobachte ich eine Zunahme von unpolitischer Gewalt. Es gab immer Gewalt bei St. Pauli, aber früher fand ich sie ausgesuchter. Wenn es irgendwo Kloppe gab, dann weil da Rech­te auftauchten oder Hooligans meinten, sie müssten hier den großen Zampano spielen. Heute gibt es bei manchen Spielen gegenüber normalen Auswärtsfans ein Territorialverhalten, das ich abstoßend finde.

Die Einschätzung überrascht mich. Schließlich gelten St. Paulis Fans doch im Allgemeinen als angenehme und politisch fortschrittlich denkende Menschen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist nur das Verhalten einer Minderheit. Aber einer Minderheit, die von Jahr zu Jahr größer wird. Die Mehrheit tickt selbstverständlich weiterhin nicht so.

Wie tickt die denn?

Wir haben immer noch eine ausgesprochen linke, politische Fanszene. Aber auch da gibt es natürlich gewaltige Unterschiede in der Ausprä­gung. Das ist ähnlich wie bei den Vorstellungen, die sich unsere Fans vom Fußball im Allgemeinen machen. Da gibt es die, die guten Fußball in einem komfortablen Stadion sehen wollen und keine Lust haben, sich über vermeintlichen Kleinkram aufzuregen. Dann sind da die Traditionalisten, die den Fußball so wie in den achtziger Jahren wollen. Dazwischen gibt es etliche Abstufungen. Es ist wahnsinnig unübersichtlich.

Findet eine Diskussion zwischen diesen Grup­pen statt?

Leider sind die Leute nicht mehr so aktiv. Früher hatten wir 100 Fanclubs, und es kamen 80 Leute zu den Delegiertenversammlungen. Heute haben wir 250 Fanclubs, und auf der Versammlung sitzen immer dieselben 30 Leute. Natürlich wird im Internet wild diskutiert, aber die Debatte geht selten über das Internet hinaus.

Was wäre denn besser als der Chat im Internet?

Die Leute sollten sich einmischen, in Gremien mitarbeiten. Es ist einfach, sich Gehör zu verschaffen. Ein Transparent malen kann jeder, einen Sprechchor anstimmen kann jeder. Das war früher das Anarchische bei St. Pauli – alle haben einfach gemacht. Das fehlt heute.

Bei welchen Themen wünschen Sie sich denn in Ihrem Verein mehr Engagement der Fans?

Ich meckere bei St. Pauli auf hohem Niveau, aber wir haben auch hohe Ansprüche an den Club. Der FC St. Pauli ist ein Stadtteilverein, und der Stadtteil ist sehr arm. Da kann es nicht abgehen, dass jedes Jahr die Eintrittspreise erhöht werden. Ich ärgere mich darüber, dass sie den Stadion­namen verkaufen wollen. Ich ärgere mich über Sponsoren, die politisch nicht zu uns passen. Es ärgert mich, dass Ole von Beust hier gefeiert wird. Auf der einen Seite lässt er über seinen Innensenator die Leute auf der Straße verprügeln, auf der anderen Seite wird er als prominen­ter Dauerkartenverkäufer hofiert. Dann das neue Stadion: Das ist eigentlich super mit den vielen Stehplätzen. Aber Fans haben da bisher nicht viel Platz. Es gibt riesige VIP-Bereiche, aber einen Raum für Fans müssen wir uns erstreiten und selber finanzieren. Die Jugendabteilung hat hin­ter der Nordkurve immer Kuchen verkauft und so ihre Auswärtsfahrten finanziert. Das wird untersagt, weil der Caterer dagegen ist. Alles, was St. Pauli ausgemacht hat, wird immer mehr eingedämmt und dem Kommerz oder dem Erfolg geopfert. Ich kann nur hoffen, dass wir keinen Event-Stadionsprecher und kein Maskottchen bekommen. Das sind fast die letzten Bastionen, die uns geblieben sind.

Würden Sie das denn überhaupt noch mitbekommen? Sie hören sich an, als wären Sie glücklich, wenn Sie nicht mehr zum Fußball gehen müssen.

Im Gegenteil: Ich freue mich darauf, wieder als ganz normaler Fan dabei zu sein, und ich werde weiterhin im Verein mitmischen. Ich werde bei den Mitgliederversammlungen aufstehen und meine Meinung sagen. Und wenn im Stadion neben mir jemand meint, er müsse einen diskri­minierenden Spruch bringen, werde ich sicherlich nicht erst den neuen Fanladenmitarbeiter anrufen. Aber ich werde nicht bei jedem Spiel zur Polizei rennen und ihr Vorgehen kritisieren. Ich bin froh, wenn ich mit denen erst mal nicht mehr reden muss.