José Luis Campos im Gespräch über Kindersoldaten in Kolumbien

»Das Recht, Kind zu sein, ist ein echtes Privileg in Kolumbien«

Vergangene Woche wurde der »Child Soldiers Global Report 2008« der internationalen »Coalition to Stop the Use of Child Soldiers« vorgestellt. Weltweit werden schätzungsweise 250 000 bis 300 000 Mädchen und Jungen als Kindersoldaten zwangsrekrutiert. Der Philosoph und Theologe José Luis Campos lebt seit 34 Jahren in Kolumbien, wo er die Kinderhilfsorganisation Benposta gegründet hat.

Sie leiten die Kinderrepublik »Benposta« in Kolumbien. Was ist eine »Kinderrepublik«?

Die Idee dazu entstand vor 50 Jahren in Spanien. Dort gründete der Pfarrer Jesús Cesar Silva Méndez in Orense »Benposta, die Kindernation«. Ziel ist es, Kinder vor Ausbeutung und Ausschluss zu schützen. In Kolumbien haben wir mit unserer Arbeit 1974 begonnen und sind in Bogotá und den Departamentos Meta und Córdoba tätig.
In den Städten Bogotá und Villavicencia bieten wir Kindern Zuflucht, die bedroht, ausgebeutet, zwangsrekrutiert oder anderweitig missbraucht wurden. Im Projekt von Bogotá leben derzeit 150 Kinder zwischen neun und 18 Jahren. In der Kinderrepublik gibt es alle zwei Jahre Wahlen, eine lokale Verwaltung, die alcal­día, und eine Regierung, die von den Kindern gewählt wird. Die Kinder sind für uns soziale Subjekte und keine hilfsbedürftigen Objekte. Deshalb dürfen sie in der Kinderrepublik selbst bestimmen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. So überwachen und verteilen sie beispielsweise selbst die Lebensmittel und kümmern sich darum, dass gekocht und auch gegessen wird.

Ist das Teil der »Wiederherstellung der Träume«, wie eines der Projektziele von »Benposta« lautet?

Ja. Ein Terminus, den wir dafür in unserer Arbeit benutzen, ist »Recht auf Hoffnung«. Dieses Recht sollten alle Kinder haben, und wir geben uns Mühe, die Hoffnung in ihnen wiederzuerwecken, denn die Verhältnisse in Kolumbien sind ausgesprochen kompliziert und schwierig. 40 Prozent der 44 Millionen Kolumbianer sind Kinder unter 18 Jahren, und viele von ihnen werden systematisch ihrer Rechte beraubt. So gehen zwei Millionen Kinder in Kolumbien nicht zur Schule, es gibt Kinder, die sich mit acht, neun Jahren um ihre Geschwister kümmern müssen; für sie ist die Kind­heit beendet. Das Recht, Kind zu sein, zu spielen und behütet aufzuwachsen, ist ein echtes Privileg in Kolumbien. Verweigern wir den Kindern ihre Rechte in der Gegenwart, nehmen wir ihnen und auch uns selbst die Zukunft.

Was haben die Kinder, um die sich Benposta kümmert, erlebt?

Zu uns kommen Kinder, die gesehen haben, wie ihre eigene Mutter ermordet wurde. Das ist eine genauso traumatische Erfahrung wie die Rekrutierung durch Bewaffnete. Generell werden die Kinderrechte in Kolumbien in allen Belangen verletzt – es gibt kaum etwas, das in Kolumbien nicht passiert und mit dem wir nicht konfrontiert sind.

Wie verhält sich die Regierung – gibt es Unterstützung?

Das ist eine komplizierte Frage, denn auf konstitutioneller und juristischer Ebene ist Kolumbien ein recht weit fortgeschrittenes Land mit Normen, Gesetzen und Verordnungen. Formell werden die Kinderrechte geschützt, und es gibt auch die juristischen Instrumente, um diese Rechte durchzusetzen. Das zentrale Problem ist jedoch, dass der Staat in vielen Regionen nicht präsent ist und dass nicht nur dort die Kinder sich selbst überlassen sind. Die besten Gesetze helfen nicht, wenn man sie nicht durchsetzt. Es gibt in Kolumbien etwa 11 000 Kindersoldaten, und im letzten Jahr hat es nach unseren Informationen auch massive Anwerbungsversuche von Seiten der Farc gegeben.
Es gibt neunjährige Kinder, die von den bewaffneten Akteuren missbraucht werden, als Soldaten wie als Informanten. Erst kürzlich haben wir einen 12jährigen Jungen von der Atlantikküste kennen gelernt, der von der Polizei gezwungen wurde, ihr als Informant zu dienen.

Für die Reintegration von Kindersoldaten hat sich die Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. Wie beurteilen Sie deren Bemühungen?

Grundsätzlich werden die Kindersoldaten als Opfer und nicht als Täter behandelt. Das ist ein großer Fortschritt, und es gibt darauf aufbauend eine Strategie zur Reintegration und zur Wiederherstellung ihrer Rechte. Das ist ausgesprochen positiv, und da ist Kolumbien sicherlich sehr viel weiter als viele andere Länder. Allerdings gibt es einen großen Widerspruch, denn vielen der Kinder, die eine Reintegrationsmaßnahme durchlaufen, gelingt es nicht, ins zivile Leben zurückzukehren. Es gibt ehemalige Kindersoldaten, die mit 17 oder 18 Jahren erneut zur Waffe greifen und zurück in den Krieg gehen. Der zentrale Grund dafür ist, dass sie keine Perspektiven und keine Alternativen zum Krieg sehen. Das ist eine andere Facette der kolumbianischen Realität. Wir arbeiten beispielsweise im Departamento Meta, und dort gibt es nach wie vor große paramilitärische Verbände, die Kinder anwerben.

Ist das eine Strategie der Paramilitärs, die offiziell entwaffnet und demobilisiert wurden?

Alle Welt weiß, dass die Paramilitärs weiterhin in allen Landesteilen operieren, und obendrein wurden bislang 33 Abgeordnete wegen Kollabora­tion mit den Paramilitärs verhaftet. Die Demobilisierung ist eine beispiellose Farce. Zudem sind wir sehr besorgt darüber, dass die Regierung in Bogotá zahlreiche Comandantes der Paramilitärs in die USA abschieben will. Für die Aufklärung der zahllosen von den Paramilitärs begangenen Menschenrechtsverletzungen wäre das ein harter Schlag, denn ohne die Comandantes wird es wohl schwierig werden, die zahlreichen Fälle von Verschwundenen aufzuklären.
In den Verhandlungen mit den Paramilitärs ging es nicht um die Befriedung des Landes. An der territorialen Kontrolle der Paramilitärs hat sich de facto in vielen Regionen nichts geändert – nur die Namen der Verbände sind neu. Auf der anderen Seite haben die Aktionen der Guerilla, die sich immer gegen die Zivilgesellschaft und deren Einrichtungen richten, an Vehemenz zugenommen.

Aber die Guerilla gilt als geschwächt. Gerade hat sich eine Farc-Kommandierende der Polizei gestellt, um die Seiten zu wechseln.

Die Armee hat in einigen Regionen des Landes Offensiven gegen die Guerilla eröffnet. Gleichwohl ist die Guerilla nach wie vor kampfbereit und kaum zu besiegen. Der einzige Weg aus dem Bürgerkrieg ist die Verhandlung. Beide Seiten sind dazu jedoch aus politischen Gründen nicht bereit, und so wird die Zivilgesellschaft immer wieder zum Spielball im Bürgerkrieg. Die Regierung beharrt darauf, dass es in Kolumbien keinen internen Konflikt gibt. Angeblich führt sie einen Feldzug gegen Terroristen. Die Guerilla sieht sich hingegen als politische Kraft, die für die Rechte der Armen und Landlosen eintritt und gegen die Interessen des Kapitals.

Befindet sich Kolumbien in einem Kreislauf der Gewalt?

Kolumbien ist durch viele Akteure von Gewalt geprägt, dazu gehört auch die organisierte Gewalt, sei es der Drogenhandel, die organisierte Prostitution oder was auch immer. In vielen Regionen ist die Sicherheitslage ausgesprochen delikat, weil die Regierung gar nicht oder nur par­tiell präsent ist. Die politische und soziale Präsenz der Regierung ist jedoch eine verfassungsmäßige Verpflichtung. Wenn die Regierung einzelne Regionen des Landes wieder in Besitz nimmt, kommen vorrangig militärische Mittel zum Einsatz, jedoch keine zivilen. Dadurch erfolgt eine Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens in den Regionen. De facto unterscheidet die Regierung nur zwischen Gut und Böse, es gibt keine Neutralität in diesem Konflikt. Ein Beispiel für diese einseitige Positionierung ist der Umgang mit den Friedensgemeinden, deren strikt neutrale Position nicht akzeptiert wird. Widerstand gegen den bewaffneten Konflikt ist schlicht nicht gefragt.

Weil Kriegsgegner in Kolumbien als Anhänger der Guerilla stigmatisiert werden?

Ja. Der Umgang mit den Friedensgemeinden, die vom Präsidenten persönlich offen in die direkte Nähe der Guerilla gerückt wurden, ist dafür ein Beispiel. Aussagen wie diese beinhalten ein hohes Risiko für die Betroffenen, denn so werden sie zu konkreten Angriffszielen für die Paramilitärs. Die Stigmatisierung ist somit eine ernste Bedrohung, und dies gilt auch für die Kinder. Allein durch die Tatsache, dass die Regierung den internen Kon­flikt nicht als solchen anerkennt, versagt sie den Kindern das Recht, als Kriegsflüchtlinge und Kriegsopfer anerkannt zu werden.

Wie beurteilen Sie die Perspektiven der kolumbianischen Jugend?

Die Situation ist schwierig, denn es fehlt an Alternativen, und enttäuschte Jugendliche, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, gibt es zuhauf. Ich bin in meinen 34 Jahren in Kolumbien noch nie so pessimistisch gewesen wie heute, denn der Austausch von Gefangenen, auf den man kürzlich noch hoffte, hat genauso wenig stattgefunden wie die Aufnahme von Verhandlungen. Wir leben in Kolumbien in einem permanenten Widerspruch, doch die Hoffnung stirbt zuletzt.