Die kapitalistische Modernisierung der Agrarproduktion

Das Ende der Knechtschaft

Nach dem Lieferstreik der Milchbauern werden die Preise von den großen Lebensmittelketten demnächst erhöht. Der Konflikt wirft jedoch ein Schlaglicht auf eine Entwicklung, die charakteristisch ist für die kapitalistische Modernisierung der Agrar­produktion.

Was ist eigentlich Landwirtschaft in einer hochindustriell organisierten kapitalistischen Ökonomie? Das Bild vieler ist immer noch geprägt von der Idylle der landwirtschaftlichen Kleinproduktion, die es allerdings in dieser Form in Deutschland immer weniger gibt. Sicher, in den ländlichen Regionen existieren noch einige folkloristisch anmutende Überbleibsel, in manchen Dörfern in Norddeutschland gibt es gar immer noch die Berufsbezeichnung »Knecht« für einen Tätigkeits­bereich, dem die Bundesagentur für Arbeit inzwischen zahlreiche klangvollere Namen gegeben hat. Die bäuerliche Landwirtschaft in dieser Form jedoch ist ein Relikt aus vorindustriellen Zeiten, und neben den zahlreichen Nebenerwerbslandwirten prägen heute hauptsächlich agrarindustrielle Großbetriebe das Bild.

In den vergangenen Jahrzehnten veränderte sich die Struktur im Agrarsektor in Deutschland stark. Die Industrialisierung seit den fünfziger Jahren hatte die Abwanderung vieler bäuerlicher Arbeitskräfte in die Städte zur Folge. Steigende Löhne der verbliebenen sorgten dafür, dass weiter rationalisiert wurde und deshalb die Bedeutung menschlicher Arbeitskraft gegenüber den Faktoren Boden und Kapital immer mehr an Bedeutung verlor. Arbeit wurde durch Kapital ersetzt, es kam zu einer intensiven Mechanisierung in der Landwirtschaft. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche pro Betrieb vergrößerte sich kontinuierlich, dabei sank die Anzahl der Beschäftigten und der Betriebe. Zum einen konnten zahlreiche bäuerliche Kleinproduzenten mit den notwendigen Investitionen in konstantes Kapital nicht mehr mithalten und wurden von agrarischen Großbetrieben geschluckt, zum anderen konnten die neuen Maschinen in der Regel effektiv nur auf großen Flächen eingesetzt werden, waren also für die kleinen Flächen der traditionellen Landwirtschaft unrentabel.
Steigende Kosten für Arbeit, Boden und Kapital drängten die Landwirte weg von Gemischtbetrieben mit Vieh und Acker hin zu einer immer stärkeren Spezialisierung, schon deshalb weil die Betriebskosten gemischter Höfe immer weniger zu tragen waren. Vor allem in der Hühnerhaltung, der Rinder- und der Schweinemast haben sich längst hoch technisierte Betriebe mit großen Viehbeständen durchgesetzt.
Des Weiteren konnte man in den vergangenen 40 Jahren bedeutende Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft beobachten, die nicht nur auf die Mechanisierung und Spezialisierung zurückzuführen ist. Es kam zu deutlichen Er­trags­steigerungen bei den Anbauprodukten durch den Einsatz neuer Saatgutsorten, Dünger und Pflanzenschutzmittel. Auch in der Tierproduktion sind durch Zuchtfortschritte, Kraftfutter­ein­satz, optimierte Fütterung und intensive veterinärmedizinische Betreuung entsprechende Leistungssteigerungen erzielt worden. Die Tiere wurden in kürzerer Zeit auf ein höheres Gewicht gemästet, legten mehr Eier oder gaben mehr Milch. Dass diese Entwicklung einen großen Schritt hin zur Massentierhaltung mit all ihren ökologischen Nebenwirkungen bedeutete, versteht sich von selbst.
Die Konzentration in der Landwirtschaft hatte einen drastischen Rückgang der Anzahl der Höfe zur Folge. Im Bereich der Milchproduktion etwa sank zwischen 1984 und 2005 die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe von 383 000 auf 116 000, die Anzahl der Kühe von 7,7 auf 4,1 Millionen. Gleichzeitig verringerte sich die Milch­produktion in absoluten Zahlen aber nur relativ wenig, und die durchschnittliche jährliche Milchlieferung je Hof erhöhte sich sogar deut­lich von 83 auf 232 Tonnen. Die zugänglichen Statistiken erlauben allenfalls Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Kleinlandwirtschaft und Großproduzenten. Dabei fällt auf, dass hierzulande, entgegen dem EU-Trend in den vergangenen 20 Jahren, die durchschnittliche Anzahl der Kühe pro Hof um 77 Prozent stieg (auf durchschnittlich 37,7 in absoluten Zahlen), während sie im Gebiet von 25 EU-Ländern (Rumänien und Bulgarien wurden statistisch nicht erfasst) um fast 32 Prozent zurückging. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche pro Betrieb verdoppelte sich allein zwischen 1990 und 2000 von 21,2 auf 41,9 Hektar.

Auch die Betriebsstrukturen veränderten sich in den vergangenen Jahren in Richtung Industrialisierung der Landwirtschaft. Zwar werden nach Informationen des Bundeslandwirtschaftsministeriums immer noch 94 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe als Einzelunternehmen geführt, diese bewirtschaften jedoch nur 69 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche, bei sinkender Tendenz. Zudem arbeitet nur noch eine Minderheit von 45 Prozent der bäuerlichen Einzelunternehmer hauptberuflich auf ihren Höfen. Der größere Teil erledigt die Landwirtschaft nebenbei und hat noch einen anderen Job. Immerhin 4,7 Prozent der Betriebe und 13,5 Prozent der Fläche entfallen auf Genossenschaften und andere von mehreren selbständigen Bauern auf größerer unternehmerischer Basis betriebene Höfe.
Auf dem Agrarsektor in Deutschland gibt es inklusive der vorgelagerten Bereiche wie etwa Molkereien oder der Verarbeitung von Getreide insgesamt knapp vier Millionen Arbeitsplätze. Nur 812 000 davon entfielen im Jahr 2005 auf die Landwirtschaft selbst, was einen Rückgang von knapp 90 000 Arbeitsplätzen innerhalb von fünf Jahren bedeutet. Dieser Sektor ist hoch subventioniert. Von etwas über neun Milliarden Euro jährlich, die die Bundesregierung an die EU für die Subventionierung der europäischen Agrarwirtschaft überweist, fließen sechs Milliarden wieder zurück. Wer aber wie viel bekommt, ist in Deutschland, anders als in anderen EU-Ländern, offiziell ein Staatsgeheimnis. Seit Jahren wird gefordert, die Verteilung der Subventionen offenzulegen, die Bundesregierung jedoch sperrt sich beharrlich dagegen, im Bundeslandwirtschaftsministerium wird gemunkelt, man befürchte eine »Entsolidarisierung der Bauernschaft«, wenn die Zahlen bekannt würden. In Großbritannien wurden vor drei Jahren die größten Subventionsem­pfänger aufgelistet, wobei herauskam, dass etwa Prinz Charles im Jahr 2004 für seine Güter in Corn­wall und Highgrove um die 990 000 Euro bezog, und dass der Schweizer Agrarriese Nestlé 2003/2004 über London fast 44 Millionen Euro an EU-Subventionen kassierte.

Dennoch kamen auch in Deutschland in den vergangenen Jahren einige verstreute Informationen an die Öffentlichkeit, und diese zeigen deutlich, dass der Löwenanteil der EU-Subventionen nicht etwa an notleidende Kleinbauern fließt, sondern an die riesigen Agrarfabriken in Nord- und Ostdeutschland. Der Stern recherchierte 2006: »Gerade mal vier Prozent der so genannten Direktzahlungen aus dem EU-Agrartopf flossen dem­nach im Wirtschaftsjahr 2004/2005 an Kleinbetriebe mit acht bis 15 Hektar. Im Schnitt erhielt jeder ganze 4 030 Euro. Die 46 392 Höfe ab 100 Hektar kassierten dagegen acht Mal so viel – durchschnittlich je 34 351 Euro. Die 2 876 Großbetriebe in Ostdeutschland bekamen sogar jeweils 402 489 Euro.«
Während das Gros der Kleinlandwirte in Deutschland ums Überleben kämpft, hat der agrarindustrielle Komplex längst ein neues Stadium der Großproduktion für den Weltmarkt erreicht – mit dem Ergebnis, dass die subventionierten Milchprodukte der EU-Agrarkonzerne in Ländern wie Burkina Faso billiger sind als die Herstellungskosten einheimischer Milch. Zu spüren bekommen das die afrikanischen Bauern, die in diesem Konkurrenzkampf unterliegen und ihre Existenz verlieren. Den Rest regelt dann der Markt.