Frankreich und der Genozid in Ruanda

Späte Einsicht im Élysée-Palast

Bislang leugnete das französische Establish­ment jede Mitverantwortung für den Geno­zid in Ruanda. Diese Haltung scheint sich nun zu ändern.

Noch bis vor kurzem hielt das politische Establishment Frankreichs eisern an der These vom »doppelten Völkermord« in Ruanda fest. Dass das damalige Regime, unterstützt und aufgerüstet von Frankreich, in den 100 Tagen von April bis Juli 1994 unzählige Morde und Massaker zu verantworten hatte, ließ sich schwerlich bestreiten. In den vergangenen 14 Jahren wurde jedoch die Guerillabewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) beschuldigt, ebenso gemordet zu haben wie die Milizen der Hutu Power.
Es war jedoch der Vormarsch der RPF, der damals den Genozid beendete. Die Guerillabewegung hat Kriegsverbrechen zu verantworten, anders als bei der Hutu-Power gab es jedoch keinen Plan zur Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe. Mehr als 800 000 Menschen wurden getötet, überwiegend Angehörige der Tutsi-Minderheit, aber auch oppositionelle Hutu.
Das französische Etablishment interpretierte damals und in den Jahren danach die Situation in Ruanda nach dem Muster kolonialer Einflusssphären. Die von Tutsi angeführte RPF war im englischsprachigen Nachbarland Uganda ansässig, an ihrer Spitze stand ein Offizier namens Paul Kagame, der nur Englisch sprach und einen Teil seiner militärischen Ausbildung in den USA genossen hatte. Obwohl die systematischen Vorbereitungen für den Genozid bekannt waren, entschieden sich die Regierenden in Frankreich dafür, den Außenposten ihrer Einflusssphäre in Zentralafrika mit allen Mitteln zu verteidigen.

Es war daher im französischen Interesse, der RPF eine Mitschuld zuzusprechen oder sie gar für den Beginn des Mordens verantwortlich zu machen. Der zuvor durch Terrorismusprozesse ­bekannt gewordene Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière ließ im Jahr 2006 ein Ermittlungsverfahren gegen Kagame, der seit dem Sieg der RPF Präsident Ruandas ist, und weitere Po­litiker und Offiziere einleiten (Jungle World 49/06). Sie wurden beschuldigt, durch ein Attentat den Genozid ausgelöst zu haben.
Nun ist in die Beziehungen zwischen Frankreich und Ruanda jedoch Bewegung gekommen, auch wenn derzeit noch unklar ist, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird. Derzeit sind in Frankreich Politiker an der Macht, die 1994 entweder keine direkte Verantwortung trugen oder aber damit nicht mehr identifiziert wer­den möchten. So war Präsident Nicolas Sarkozy damals Regierungssprecher und Haushaltsminister, und daher nicht unmittelbar an den Entscheidungen beteiligt, die im Präsidentenpalast, im Außen- sowie im Verteidigungsministerium über Ruanda getroffen wurden.
Bruguière steht Nicolas Sarkozy ausgesprochen nahe. Dennoch hat der Präsident offenbar erkannt, dass er die bisherige französische Politik des Wegschauens und Ignorierens, was die von ruandischer Seite, aber auch etwa von französischen Solidaritätsinitiativen wiederholt vorgetragenen Vorwürfe zur Rolle des eigenen Staates betrifft, nicht einfach weiter betreiben konnte. Es musste eine Lösung gefunden werden.
Nun scheint es, als sei das Problem zumindest entschärft worden. Bislang hatte die französische Politik stets den 7. April, den Jahrestags des Beginns des ruandischen Völkermords, geflissentlich ignoriert. Doch in diesem Jahr sprach Sarkozys Staatssekretärin für Menschenrechtspolitik, Rama Yade, als erste Regierungspolitikerin auf einer Gedenkveranstaltung von Ruandern in Paris. Ursprünglich sollte Yade sogar nach Kigali fahren und dort an den Gedenkfeiern teilnehmen, sie nahm dann jedoch von diesem Vorhaben Abstand.

Auch in der französischen Justiz gibt es Veränderungen. Jahrelang wurden die Auslieferungsverfahren blockiert, die teils durch den ruandischen Staat, teils durch den Internationalen Gerichtshof im tansanischen Arusha zu den in Ruanda begangenen Verbrechen beantragt worden waren. Zum ersten Mal überstellte Frankreich am 5. Juni dieses Jahres einen Genozidverdächtigen an den Gerichtshof in Arusha. Der 66jährige Dominique Ntawukuriryayo, der als Unterpräfekt von Gisagara die Verantwortung für das Massaker an 25 000 geflohenen Tutsi trug, lebte seit 1999 in Frankreich. Er war im Oktober vergangenen Jahres in Carcassonne verhaftet worden.
Unterdessen läuft auch das Verfahren weiter, das Bruguière 2006 angestrengt hat. Und der französische Untersuchungsrichter hat in seinem spanischen Kollegen Fernando Abreu Merelles einen Nachahmer gefunden. Merelles hat am 6. Fe­brurar dieses Jahres ein internationales Anklageverfahren gegen 40 hochrangige ruandische Persönlichkeiten angestrengt, unter ihnen elf Generäle. Ausnahmslos alle entstammen den Reihen der RPF und werden von ihm des »Völkermords«, der »Verbrechen gegen die Menschheit« und des »Terrorismus« bezichtigt.
Anfang Mai musste die ruandische Außenministerin Rosemary Museminali einen geplanten Besuch in Brüssel absagen. Ein hochrangiges Mitglied ihrer Delegation hatte kein Visum erhalten, weil gegen ihn ein im ganzen Schengen-Raum gültiger Haftbefehl des spanischen Richters vorliegt. Die Ministerin zog es vor, auf den gesamten Besuch zu verzichten, da es nicht Sache der Belgier sein könne, »die Zusammensetzung der ruandischen Delegation zu diktieren«.

Präsident Kagame wetterte deshalb beim Gipfeltreffen der Afrikanischen Union (AU) Ende Juni gegen die »moralische Scheinheiligkeit« euro­päischer Richter, die gegen afrikanische Führungs­persönlichkeiten ermittelten, während es unvorstellbar sei, dass die Justiz eines afrikanischen Landes einen ähnlichen Haftbefehl gegen einen europäischen Staatschef ausstelle und dieser auch vollstreckt werde. Paul Kagame forderte alle Länder der AU auf, solche Ermittlungsverfahren und internationalen Haftbefehle auf ihrem Boden für ungültig zu erklären.
Überdies kündigte er Ende Juni an, falls die französische und die spanische Justiz so fortführen, werde Ruanda seinerseits Prozesse gegen in den Völkermord verstrickte französische Militärs eröffnen. Als Bruguière sein Verfahren begann, beauftragte Kagame eine Kommission mit der Untersuchung der französischen Rolle beim Genozid. Deren Bericht soll in Kürze veröffentlicht werden. Die kenianische Zeitung The Nation nannte bereits einige Details. So sagte Martin von Helmreich, der 1994 für eine französische ­Finanzinstitution tätig war, dass Sarkozy »sehr wahrscheinlich« an der Finanzierung der Hutu Power beteiligt war.