Die Krise der russischen Wirtschaft nach dem Georgien-Krieg

Der Rubel rollt abwärts

Der Energieexport erlaubt es Russland, politischen Druck auszuüben. Doch Investoren zogen nach dem Georgien-Krieg Kapital ab, die russische Wirtschaft ist verwundbar.

Nein, es werde keine Sanktionen gegen Russland geben, wiegelte Frank-Walter Steinmeier ab. »Das müsste mir noch einer erklären, was eine Sanktion für Russland ist«, fügte er in entwaffnender Offenheit gegenüber der FAZ hinzu und umriss damit ein wichtiges Problem der westeuropäischen Staaten. Sie können kein ernsthaftes Interesse an einem neuen Kalten Krieg haben, weder politisch noch ökonomisch. Dass die russischen Öl- und Erdgasvorräte ein Druckmittel sind, hat Wladimir Putin bereits im vorigen Jahr mit der Drohung demonstriert, die Energielieferungen in die Ukraine einzustellen.
Die Abhängigkeit von russischem Erdgas und das Bedürfnis des deutschen und französischen Kapitals nach einträglichen Geschäften auf dem russischen Markt prägen somit die äußerst kompromissbereite Haltung der EU-Staaten gegenüber der offensiv um ihre Einflussspähren ringenden russischen Regierung. Die US-Regierung betreibt die schnelle Integration Georgiens und der Ukraine in die Nato. In den vergangenen 15 Jahren haben europäische Unternehmen in großem Stil langfristige Investitionen in Russland getätigt, während die US-Regierung die Lage nach dem 11. September 2001 genutzt hat, um vor allem in Georgien und Zentralasien Militärbasen zu errichten und ihren Einflussbereich sowohl geostrategisch als auch im Hinblick auf die Erschließung der Energiereserven der Region auf Kosten Russlands zu erweitern. Daher ist der Konflikt latent auch eine Auseinandersetzung der USA mit dem ökonomischen Machtblock der EU.

Ob der amerikanische Wunsch nach einem schnel­len Nato-Beitritt der beiden unter russischem Druck stehenden Bündnispartner Georgien und Ukraine erfüllt werden wird, ist angesichts dieser Interessengegensätze unklar. Erst im April wurden entsprechende Pläne beim Nato-Gipfel in Bukarest vor allem auf Betreiben Deutschlands und Frankreichs abgewiesen. Auf die Hilflosigkeit Europas und die nur mühsam kaschierten Spannungen zwischen den Machtzentren der Nato-Staaten vertraut die russische Führung offenbar.
Möglicherweise jedoch haben Wladimir Putin und Dimitrij Medwedjew in ihrer Rechnung einen Posten übersehen. Seit dem Beginn der Kampfhandlungen vollzieht sich an den Finanzplätzen Russlands ein beispielloser Abzug ausländischen Kapitals. Innerhalb von knapp zwei Wochen gingen die Devisenreserven um 16,4 Milliarden Dollar zurück, wie die russische Zentralbank bekannt­gab. Sowohl der russische Börsenindex als auch der Kurs des Rubels fielen. Am Donnerstag der ver­gangenen Woche musste die Zentralbank eingreifen und den Rubelkurs durch den Verkauf von Gold- und Devisenreserven im Wert von 3,5 bis 4,5 Milliarden Dollar stützen. Die Kapitalflucht könnte einer von mehreren Faktoren sein, die Russland in eine ernste Rezession treiben. Der Aktienindex hat bereits seit Jahresanfang etwa 30 Prozent verloren und das Land beginnt, die Aus­wirkungen der internationalen Finanzkrise zu spüren, die dem Immobiliencrash in den USA folgt. Noch im Januar hatte Vizezentralbankchef Gennadi Melikjan erklärt, das russische Finanzsystem sei gegen die Turbulenzen der Krise gefeit.

Inzwischen jedoch scheint ein Krieg der Analysten im Gang zu sein. Während in den Meldungen der russischen Nachrichtenagentur Nowosti beruhigende Statements verbreitet werden, schlug die von einem westlichen Konsortium herausgegebene Moscow Times einen gänzlich anderen Ton an und bezeichnete den 8. August – den Tag des Beginns der Kampfhandlungen mit Georgien – als einen Schicksalstag für Russland, an dem die Regierung eine halbe Billion Dollar an Börsenwerten vernichtet, die Wirtschaftsreformen ad absurdum geführt und Russland politisch und wirtschaftlich in die Isolation getrieben habe. Der Autor des Artikels, Anders Aslund vom Peterson Institute for International Economics, prophezeite Russland einen jähen ökonomischen Absturz.
Es ist auffällig, dass US-Analysten wie die der Investmentbank Lehman Brothers die ökonomische Situation in Russland generell deutlich schlechter darstellen als die europäischen, sieht man einmal von Spiegel online ab, wo Russland ebenfalls bereits Ansätze einer neuen Rubelkrise bescheinigt wurden. Es ist schwer zu beurteilen, ob die eine Seite Schönfärberei betreibt oder die andere nach Kräften eine Kapitalflucht aus Russland herbeischreibt. Festgehalten werden kann aber, dass die medialen Konjunkturorakel ihre Rolle in dem Spiel haben und sich an den jeweiligen politischen Interessen orientieren.
Die Kapitalflucht trifft die russischen Unternehmen umso härter, da ausländische Geldgeber das Gros der langfristigen angelegten Finanzmittel bereitstellen. »Das ist die Achillesferse des russischen Marktes«, sagte Kingsmill Bond von der Investmentbank Troika Dialogue der Financial Times bereits Mitte August. Und es wäre nicht das erste Mal, dass durch den Abfluss ausländischen Kapitals die russische Wirtschaft in Turbulenzen gerät. Bereits 1998 kam es im Gefolge der Asienkrise und bedingt durch innere Probleme bei der kapitalistischen Umgestaltung der Wirtschaft zu einer starken Abwertung des Rubels und fast zu einem Zusammenbruch des Aktienmarktes.

Ausgelöst wurde die Panik durch den Internationalen Währungsfonds, der in einer öffentlichen Note das angeblich zu langsame Tempo der Privatisierungen kritisiert und die Auszahlung eines bereits zugesagten Kredits verschoben hatte. Die bereits nervösen ausländischen Investoren begannen daraufhin, hastig ihr Kapital abzuziehen, die Aktienkurse brachen ein. Verstärkt wurde dieser Trend durch einen Artikel des Investmentbankiers und Finanzgurus George Soros, der in der Londoner Times die Abwertung des Rubels »empfahl«, was die Kapitalflucht beschleunigte und dazu führte, dass viele Anleger Rubel verkauften. Die russische Regierung war letztlich gezwungen, den Wechselkurs freizugeben, der innerhalb kürzester Zeit um mehr als 60 Prozent fiel. Es kam zu einem Ansturm der Kunden auf die Privatbanken, während die Geschäftsbanken zu einem großen Teil Insolvenz anmelden mussten.
Am Ende der Rubelkrise von 1998 stand der faktische Staatsbankrott Russlands. Seitdem haben sich Währung, Bankensystem und Aktienmarkt nach und nach wieder erholt, nicht zuletzt dank der immensen Steigerung der Energiepreise. Aber auch die Wiederherstellung des starken Staats, der Versuch, den US-Einfluss im Kaukasus und in Zentralasien wieder zurückzudrängen, und die hintergründige Drohung, die Energie­lieferungen als Druckmittel einzusetzen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland wirtschaftlich verwundbar bleibt. Und auch der Westen weiß das. Die US-Außenministerin Condoleezza Rice könnte auch an diesen Aspekt gedacht haben, als sie verkündete, Moskau habe es zu weit getrieben, nun müsse es den Preis dafür zahlen.