Interview mit Thomas Meinecke über Katholizismus und Sexualität

»Vogueing ist katholisch«

Wer die Songs der Band F.S.K. und die frü­he­ren Romane von Thomas Meinecke kennt, wird sich nicht darüber wundern, dass auch sein gerade erschienener Roman »Jungfrau« eher ein DJ-Set als eine stringente Erzählung ist. Es geht wie schon in seinem Roman »Tomboy« um queere Theoriebildung. Allerdings ist das Feld, auf dem Meinecke erforschen will, wie Sexualität konstruiert ist, eher ungewöhnlich. Es ist der Katholizismus. Neben Hollywoods B-Film-Ikone Maria Montez sowie ihrem Wiedergänger Mario Montez, dem Camp-Filmer Jack Smith oder der Jazzpianistin Jutta Hipp sind es der Briefwechsel zwischen Heloise und Abaelard, die Texte mittelalterlicher Mystikerinnen oder die Schriften des modernen Theologen Hans Urs von Balthasar, mit denen er sich auseinandersetzt.

Was ist am Katholizismus aus emanzipatorischer Perspektive heute interessant?

Mich interessiert beim Schreiben immer mehr das, worüber alle reden. Und vor einigen Jahren habe ich mich mit dem damaligen Kardinal Ratzinger beschäftigt, weil ich mich gefragt habe, was das eigentlich für ein Typ ist, dieser Dogmatiker und Intellektuelle. Nachdem ich mich dann für ein Theaterstück in die Transsubstantiations­lehre, also die Verwandlung der Hostie in das Fleisch Jesu, eingelesen hatte, war ich davon fasziniert, wie nah diese Sachen, die vor Hunderten von Jahren gedacht wurden, an der zeichentheore­tischen Komplexität sind. Denn von dieser bin ich als Autor seit eineinhalb Jahrzehnten hauptsächlich durch die feministische Theorie beeindruckt und beeinflusst.
Deswegen bin ich auch ein Gegner der Ökumene, weil es ein Unterschied ums Ganze ist, ob man wie die Katholiken sagt, dass die Hostie das Fleisch Christi ist, oder wie die Protestanten, dass es das nur irgendwie bedeutet. Es ist ein radikaler Gedanke, dass hinter dem Zeichen gar nichts ist, sondern nur das Zeichen. Ich habe beim Schreiben und Mich-Einarbeiten gemerkt, das hat Soul, und ich kann Stereotype über den Katholizismus abbauen und neu darüber denken.

Wie kann man denn das Zeichen der unbefleckten Empfängnis feministisch interpretieren?

Kann ich das? Dazu hab’ ich ein ganz komisches Verhältnis. Ich wollte anfangs das ganze Buch »Unbefleckte Empfängnis« nennen, weil ich dach­te, das wäre ein unglaublich burlesker Begriff. Man kann den Texten der Mystikerin Hildegard von Bingen durchaus interessante Dinge entnehmen, aber man kann ihre Werke auch im Duftölverlag erwerben. Und da ich nicht wollte, dass die Leute denken, ich würde jetzt frömmeln, habe ich den Titel fallen gelassen. Man kann den Gedanken der unbefleckten Empfängnis zumindest feministisch verlängern, wenn dieser impliziert, dass kein Mann am Entstehungsprozess von Jesus Christus beteiligt war, dann ist diese Figur sozusagen eine, die aus reiner Weiblichkeit zur Existenz kam. Viele Mediävistinnen lesen das auf diese Weise. Über die Ikonographie geht da einiges feministisch.

Inwiefern kann man ausgerechnet in den Texten mittelalterlicher Mystikerinnen oder moderner katholischer Theologen wie Hans Urs von Balthasar etwas entdecken, das in Hinblick auf Sexualität emanzipatorisch ist?

In den Texten, die ich gefunden habe, wird Sexualität im Sinne einer Konzeption und nicht als etwas Essenzialistisches behandelt. Im Katholizis­mus finde ich plötzlich ein System, in dem klar wird, dass das, was zwischen den verabredeten oder normierten Geschlechtern stattfindet, konstruiert ist. Es ging mir in »Jungfrau« darum, mich experimentell dem zu nähern, was eigentlich Sexualität ist. Die Hauptfigur Lothar Lothar, die sich vorher mit Performativität beschäftigt und Theaterwissenschaft studiert hat, verzichtet freiwillig auf Sex und widmet sich der Theologie. Es geht aber nicht um Verzicht oder Askese, sondern um das, was voll da ist. Die verzückten Bräute Christi aus dem Mittelalter kann man nicht einfach nur als Lesben im Kloster abtun oder mit der Erklärung, dass die eben ihre eigene spirituelle Sexualität hatten. Man muss versuchen, das anders zu denken, um zu verstehen, warum sich die Männer in der katholischen Kirche dem Zölibat unterwerfen. Auch meine Hauptfigur ist ja in dem Moment, wo er versucht, der Sexualität zu entsagen, vielleicht mitten in der sexuellen Praxis gelandet.

Warum beschäftigen Sie sich in ökonomischen Krisenzeiten, wo alle davon reden, dass man verzichten muss, mit der sexuellen Komponente des Verzichts?

Eigentlich nur um klar zu machen, was das ist, auf das verzichtet wird. Es soll kein Plädoyer für den Verzicht oder die Askese sein, sondern ein Abtasten der Negativform, die nur das Andere des direkten Reliefs ist. Das ist die experimentelle Anordnung in diesem Roman. Ich wollte zeigen, wie innerhalb des Katholizismus eine Ausein­andersetzung mit Geschlecht und Sexualität stattgefunden hat, die vom normierten Diskurs und von der normierten Praxis abweicht.

Die Erfahrung von Körperlichkeit durch den kalten Entzug ist im Katholizismus aber immer auch das Eingeständnis des Scheiterns daran gewesen, Verstand und Körper trennen zu wollen.

Das ist doch viel wesentlicher für den Protestantismus. Ist nicht der Katholizismus eher in der Lage, damit produktiv umzugehen? Ich finde sein verlogenes Modell der Entsagung, das durch das System von Sünde und Beichte dem Menschen ermöglicht, in einen endlosen Kreislauf eintreten zu können, das interessantere Angebot, inter­essanter als das hehre Kalt-Niederduschen im Protestantismus. Der Katholizismus hat einiges anzubieten. Selbst der Papst hat in einer Enzy­klika den Priestern zugestanden, dass sie von schwulem Begehren geleitet sein können, sie dürfen es nur nicht ausleben. Das ist doch schon mal was.
Der Katholizismus entlässt eben niemanden aus der Gnade, als Katholik ist man gnadenlos in der Gnade gefangen. Faszinierende Katholiken sind für mich immer auch Herbert Achternbusch, Madonna, Andy Warhol, Martin Scorsese oder Josef Winkler. Auch wenn sie es nicht sein wollen, irgendwie bleiben sie immer katholisch und werden nicht richtig entlassen. Das Denken, die Sprache, die Grammatik sind mehr davon geprägt, als sie es wollen.

In »Jungfrau« geht es ja nicht nur um im stren­gen Sinne gläubige Katholiken, sondern auch um den New Yorker Underground-Film der sech­ziger Jahre, Jazzpianistinnen oder Andy Warhol. Worin besteht das katholische Moment in der Popkultur?

Warhol war tatsächlich katholisch und ging jeden Morgen in die Kirche. Abgesehen davon läuft vielleicht in der Brillo-Box zeichentheoretisch etwas ähnliches ab wie in der Transsubstantiation, was also ein vergleichbarer Umgang mit der Oberfläche wäre. Aber es ist vor allem der Umgang mit der schwulen katholischen, oft latein­amerikanischen Entourage in der Factory, wie bei­spielsweise dem Schauspieler Mario Montez, der in Filmen von Warhol oder Jack Smith gespielt hat, der das katholische Moment ausmachen könnte. Ronald Tavel, Begründer des Theater of the Ridiculous, oder Figuren wie Hubert Fichte sind doch so eine Art Pomo-Katholizismus, der deswegen postmodern ist, weil man nicht da ist, wo man herkommt. Da steckt also auch das diasporische Element drin.

Und wo finden wir heute popkatholische Momente?

Für mich gibt es die in der House-Musik, in den schwulen House- und Ballroomsocieties. Und Vogueing ist bestimmt katholisch, was soll es sonst sein? Ich sehe das auch in der Band Her­cules and Love Affair. Ich will den Katholizismus ja nicht schönschreiben, aber es wäre schön, wenn er so wäre. Mich rührt so eine House-Nacht, wenn die DJs plötzlich den Sonntagmorgen in so einer gewissen Gospelhaftigkeit anklingen lassen. Das ist natürlich kein Gottesdienst, aber von der katholischen Grammatik durchaus geprägt.
Ich komme hoffentlich nicht in den Geruch von dem, was Martin Mosebach macht. Ich wollte nicht das Korrupte und Verlogene, sondern das Produktive der Widersprüche zum Ausdruck brin­gen, die in diesem katholischen System existieren. Ich habe ein Erkenntnisinteresse und fühle mich einem linken Aufklärungsprojekt verpflichtet. Da bin ich ganz altmodisch und will Sachen herausfinden, die der Emanzipation, dem Fortschritt, dem Gedanken von Befreiung dienen. Wenn ich etwas am Katholizismus interessant finde, dann die Dogmen und nicht das, was man im Duftölverlag kaufen kann.

Werden Sie von Linken mit radikalen Dogmen rezipiert?

Es gibt da so Versprengte von der Zeitschrift ­Bahamas, die mich gut finden. Aber die haben es schwer, weil die bei den Bahamas Judith Butler nicht mögen. Warum mögen die sie nicht?

Weil sie Antizionistin ist und Kritik am Anti­semitismus als politische Zensur empfindet.

Nun, ich kann schon verstehen, wie der Bush auf das Cover der Bahamas kommen konnte. Ich habe mich auch schon Sharon verteidigen sehen, wenn ich dem ewig gleich gestrickten Antisemitismus begegne und die Leute sagen, dass sie auch jüdische Freunde haben, die die Mauer in Israel kritisieren. Als ich vor ein paar Jahren in der U-Bahn Leute hörte, die sich ganz verzückt über Michael Moores Film »Bowling for Colum­bine« unterhielten, hätte ich mir am liebsten auch ein Bush-Shirt angezogen.

Ist Obama popkatholischer als Bush?

Ich weiß es auch nicht. Ich war bei einer der Primarys in Texas und hab mir ein Shirt von Obama gekauft, was ich aber ausschließlich nachts im Bett trage. Schließlich wird der als Präsident auch nur das machen, was man als Präsident eben machen muss. Und dann kann ich das Shirt sowieso nicht mehr tragen.