In Kolumbien rekrutieren bewaffnete Gruppen immer mehr Kinder

Rekrut Raspachín

In Kolumbien rekrutieren bewaffnete Grup­pen verstärkt Kinder und Jugendliche. Auch in den einstigen Kokaregionen in der Provinz Meta wird um Nachwuchs geworben.

Als Efren 13 Jahre alt war, warnte ihn sein Bruder ein letztes Mal. »Entweder du kommst mit mir zur Guerilla, oder du bist deines Lebens hier nicht länger sicher.« Das war 1999. Doch der blasse Efren hatte seinen Entschluss längst gefasst. Er floh in die Provinzhauptstadt Villavicenico. Zurück ließ er seine Mutter, seine Angelschnüre und die Kleinstadt Puerto Rico, irgendwo im Meta, einer ländlichen Provinz Kolumbiens.
Wie in der gesamten Gegend lebten die 16 000 Einwohner von Puerto Rico zu dieser Zeit noch vom Kokaboom, mit Dorfdisko, Modeboutiquen und gelegentlichen Überfällen der Guerilla oder Paramilitärs. Dennoch, »der Kokaanbau hatte den meisten hier zu einer festen Existenzgrundlage verholfen«, sagt die derzeitige Sozialbeauftragte des Rathauses, Diana Vargas.
Der nun 22jährige Efren will das nicht bestätigen. Hunger habe er gehabt, wenn seine Mutter auf den Feldern aussäte, und Angst, wenn im Dorf gekämpft wurde. Puerto Rico gehörte damals eigentlich zu einer 40 000 Quadratkilometer gro­ßen entmilitarisierten Zone, die die kolumbianische Regierung mit den Guerilleros der Farc ausgehandelt hatte. Es sollte über die Forderungen der größten Guerillaorganisation Kolumbiens nach einer Landreform, einer strikteren Gewalten­teilung und einem nichtmilitärischen Umgang mit dem Kokahandel diskutiert werden.

»Doch de facto kassierte die Farc in der entmilitarisierten Zone zu diesem Zeitpunkt längst eine vacuna, ein Schutzgeld, von den Kokabauern«, erzählt Efren. »Paramilitärische Verbände taten dasselbe.« Abwechselnd nahmen sie in den neun­ziger Jahren viermal Puerto Rico ein. Auf beiden Seiten kämpften bereits damals Minderjährige oder arbeiteten als Informanten, Botenjungen und Drogenkuriere. Derzeit soll es in Kolumbien Schätzungen der NGO Benposta zufolge über 11 000 Kinder und Jugendliche in den Reihen der nichtstaatlichen Konfliktparteien geben.
»Wir wissen noch nicht genau, warum in den letzten Jahren verstärkt jüngere Kinder rekrutiert werden«, sagt José Luis Campos, der Gründer von Benposta. »Es ist jedoch zu vermuten, dass gerade die Farc von den militärischen Aktionen der Regierung stark geschwächt ist und dringend neue Leute benötigt.« So auch in Puerto Rico und den umliegenden Gemeinden, wo Farc, paramilitärische Gruppen und Armeeeinheiten kämpfen. »Anfang des Jahres wurden auf dem Land hier anscheinend über 30 Kinder und Jugend­liche rekrutiert, von denen nur vier zurückkamen«, sagt Vargas. »Nur so haben wir überhaupt davon erfahren.« Denn viele Familien erstatten keine Anzeige, aus Angst oder weil sie den staatlichen Institutionen misstrauen.
»Viele Eltern glauben leider auch, die Jugendlichen mit einer der bewaffneten Gruppen gehen zu lassen, sei eine Art Lebensversicherung, dass die Kinder dann regelmäßig Geld nach Hause sen­den würden«, sagt der humanitäre Helfer José Luis. Efren nickt: »Als Jugendlicher konnte man früher wenigstens als raspachín, als Kokapflücker, etwas dazu verdienen. Es gab weniger Gründe, aus einer Notsituation heraus Kämpfer zu werden.«
Das Leben in der Region wurde härter, als die Re­gierung von Präsident Alvaro Uribe 2002 die Entmilitarisierung aufkündigte und mit Unterstützung paramilitärischer Verbände die Guerilla in die Berge abdrängte. Seit Ende vergangenen Jah­res dann Sprühflugzeuge und Militäreinheiten die Kokaernte zerstörten, leben die meisten in Puerto Rico von Yuca, Bananen und Fischfang, die Ärmsten auch von den Nahrungsrationen der Re­gierung. Die staatliche Entwicklungshilfe für die früheren Kokaregionen besteht vor allem in Subventionen für den Anbau von Ölpalmen zur Biospritproduktion, doch die teuren Pflanzen tra­gen erst nach drei Jahren Früchte.
Mit 12 Jahren endete für Kinder ärmerer Familien meist der Schulbesuch, ab diesem Alter wer­den sie von bewaffneten Gruppen verstärkt angeworben. Offen wird darüber in Puerto Rico nicht geredet, die Angst vor Informanten ist groß. Gerade deshalb organisiert Benposta in einem leerstehenden Haus der Dorfverwaltung jede Woche Treffen. Manchmal kommen dann Mädchen und Jungen dazu, die selbst einige Zeit »gedient« haben, oder es berichten Jugendliche, die noch Kontakt zu ihren früheren Spielgefährten haben. Von erniedrigenden Arbeiten, von Schlä­gen, Hunger, erzwungenem Sex, Einsätzen als Minensucher ist dann die Rede.
Efren erzählt bei solchen Treffen oft die Ge­schich­te seines Bruders. Vom letzten Treffen vor sechs Jahren, als beide noch einmal ausgelassen im Fluss badeten und der große Bruder ihm riet, bloß nie zurückzukommen. Wenig später erschoss eine Militärpatrouille den 21jährigen Guerillero, als er Plakate gegen die Wahl von Uribe klebte. Efren, der noch im Dorf war, brachte seine Mutter in Sicherheit und tauchte unter. Angehörige getöteter Kämpfer stehen stets unter Verdacht, Mitwisser oder Kollaborateure zu sein.

Wer Glück hat, findet auf der Flucht Schutz bei entfernten Verwandten, Freunden, in einer der Ju­gendkommunen von Benposta oder ähnlichen Projekten. Auch Efren landete damals in einer die­ser Jugendkommunen und blieb bis heute. Dort werden befreiungstheologische Ideen mit denen einer kollektiven Erziehung nach dem Vorbild des russischen Pädagogen Anton S. Makarenko gemischt: Tischgebet und Selbstverwaltung. »Irgendwie klappt das ganz gut«, sagt José Luis zu­frieden. »Aber wir können und wollen nicht lang­fristig staatliche Aufgaben übernehmen, sondern mit unserer Arbeit ein funktionierendes Modell aufzeigen.«
Doch die kolumbianische Regierung setzt vorwiegend auf eine militärische Lösung des bewaffneten Konflikts. Der Zwang, dabei stets Erfol­ge zu vermelden, hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Militärs, allein oder mit paramilitärischer Unterstützung, Kinder entführen, die dann später tot in Guerillauniformen wieder auftauchen. Mehr als 1 100 Jugendliche sollen für solche Beweisfotos in den vergangenen fünf Jahren vom kolumbianischen Militär ermordet worden sein. Nach dem jüngsten Fall von mindes­tens elf auf diese Weise getöteten Jugendlichen aus Soacha sah Uribe sich gezwungen, mehr als 20 Militärs zu entlassen, darunter auch drei Generäle und den Oberkommandierenden der Streit­kräfte, General Mario Montoya. Keiner der ranghohen Offiziere hatte es mehr weit bis zur Rente.

Ihre Militärlaufbahn noch vor sich haben dagegen viele Jugendliche aus den von der Kokakultur »gesäuberten« Regionen. Dort übertrifft die Zahl junger Berufssoldaten die der Tagelöhner im Palmensektor bei weitem. Efren weiß, dass viele Jungen und Mädchen von solch einer Karriere träu­men. Oft versucht er es ihnen auszureden. »Es gibt aber auch Jugendliche, die auf keinen Fall zum Militär oder zur Polizei gehen wollen«, sagt er. Doch in Kolumbien gilt die Wehrpflicht, nur die Mittel- und Oberschicht hat das Geld, ihre Kin­der vom Dienst freizukaufen.
Efren schaut auf den Fluss. 200 Meter stromab­wärts haben sie seinen Bruder erschossen, 100 Meter in die andere Richtung wartet seine Mutter unter einem karierten Regenschirm. Sie will ihren Sohn vor seiner Abfahrt in die Jugendkommu­ne noch einmal umarmen. Efren, der kurz vor seinem Abschluss als Betriebswirt steht, kneift die Augen zusammen. »Ich bin seit einiger Zeit Bürgermeister der Jugendkommune in Villavicencio, und ich habe mich gefragt, warum ich das nicht auch hier, in Puerto Rico, schaffen sollte. Zu­mindest lebe ich noch. Ein guter Anfang.«