Die Reform des Bildungssystems in Hamburg

Schule für fast alle

Hamburg schult um: Die schwarz-grüne Regierung reformiert das Bildungssystem. Doch das wohlklingende Konzept bringt keinesfalls allen Schülern Vorteile.

Überaus betriebsam zeigt sich derzeit die Hamburger Bildungssenatorin Christa Goetsch (GAL). Unter großem Aufsehen stellte sie Anfang Februar ihr »Rahmenkonzept« für die Reform des Hamburger Schulsystems vor. Die Presse griff das Thema begierlich auf, auch die ersten bundesweiten Reaktionen waren Anerkennung und Bewunderung. Vorbildlich klingen die in dem Konzept enthaltenen Ideen des »gemeinsamen Lernens«, der »Teambildung von Lehrern«, der Abschaffung des »Sitzenbleibens« und der Noten bis zur sechsten Klasse. In einem hübschen Design wird das 37 Seiten lange »Rahmenkonzept« obendrein präsentiert, der Slogan »Eine kluge Stadt braucht alle Talente« soll schmissig klingen.
In der Tat bringt das Konzept erhebliche Verän­derungen in der Schulpolitik. In Zukunft soll es in Hamburg nur noch vier Schultypen geben: die Primar-, die Stadtteilschulen, die Gymnasien und die Sonderschulen. Alle Schüler sollen nach dem Willen der schwarz-grünen Regierung ab dem Schuljahr 2010/11 gemeinsam sechs Jahre lang die Primarschule besuchen. Die frühe, von der Leistung abhängige Verteilung der Kinder auf verschie­dene Schultypen soll so beendet werden. Erst nach den sechs gemeinsamen Jahren werden die Schüler voneinander getrennt. Sie besuchen dann entweder die Stadtteilschulen, auf denen alle Schulabschlüsse bis hin zum Abitur nach 13 Jahren erworben werden können, oder ganz traditionell die Gymnasien, auf denen nach zwölf Schuljahren das Abitur angeboten wird. Die Gym­nasien beizubehalten, ist das größte Zugeständnis von Goetsch an den Koalitionspartner CDU.

Genau diese Tatsache wird ihr von Kritikern immer wieder vorgehalten. Denn von der »Schule für alle« ist das Konzept weit entfernt. Das Gym­nasium bleibt bestehen, was etliche struktu­relle Probleme nach sich zieht. »Wie man es dreht und wendet – die Selektion der Schüler wird nur aufgeschoben und nicht aufgehoben«, fasst Klaus Bullan, der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Kritik im Gespräch mit der Jungle World zusammen. Dies könnte sich sogar noch verfestigen, denn die neu entstehenden Primarschulen dürfen sich für die »räumliche Organisation« einen Kooperations­partner suchen. Die bisher vierstufigen Grund­schulen benötigen nämlich beim Umbau zu Primarschulen neue Räumlichkeiten. Eltern in wohl­habenden Stadtteilen wie Blankenese oder Eppendorf dürften sich freuen, haben doch schon einige Gymnasien ihre Kooperationsbereitschaft angedeutet. Ihre Kinder könnten demnach auf dem direkten Weg ins Gymnasium aufrücken.
Trotz der offensichtlichen Mängel des Konzepts gewinnt man den Eindruck, dass Goetsch möglichst in der laufenden Legislaturperiode das gesamte Vorhaben vollenden möchte. Neben den Primarschulen sollen ja auch noch die Stadtteilschulen entstehen. Für den Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos ist dies eigentlich ein Aspekt zu viel. »Es ist ausgesprochen verwegen, so einen großen Umbau vorzunehmen, ohne dies vorher im Modell auszuprobieren«, sagte er in der Welt.
Chaotische Zustände sind zu erwarten und bereits auf den »regionalen Schulentwicklungskonferenzen« in Hamburg zu beobachten. Auf die­sen Konferenzen sollen sich Lehrer, Rektoren und Elternvertreter der bisherigen Schulen darauf verständigen, wie in den einzelnen Stadtteilen die Reformen angewendet werden sollen. Doch freiwillig gibt niemand seinen Standort auf. »Es ist ein einziges großes Gefeilsche um die eigene Schule«, fasst Renate T.*, Lehrerin an einer Gesamtschule, die Zustände zusammen. Für sie haben die Diskussionen wenig mit pädagogischen Überlegungen zu tun. Die Behörde von Goetsch scheint dies bewusst in Kauf zu nehmen. Sollten sich die Konferenzen nämlich nicht einigen, wird von Amts wegen angeordnet, wo es langgeht. »Die Mitbestimmung steht nur auf dem Papier. Fak­tisch können sich die Konferenzen nicht einigen – dafür sind die berechtigten Eigeninteressen zu groß«, so Renate T. weiter. Sollten die Gespräche scheitern, könnte die Behörde ganz einfach den Konferenzen die Schuld zuschieben – diese konnten sich schließlich nicht verständigen.

Einen weiteren Mangel hatten die Konferenzen bis vor einem Monat ebenfalls – es waren keine Delegierten der Sonderschulen eingeladen. Sie wurden anscheinend einfach vergessen. Und das, obwohl sich Goetsch bisher als Verfechterin des integrativen Lernens gab. In ihrem Reformkonzept ist davon wenig übrig geblieben. Die Auf­lösung der Sonderschulen ist dem Koalitionsvertrag zufolge erst in der kommenden Legislaturperiode vorgesehen. Bis dahin sollen die Schüler in der Primarschule durch »integrative Maßnahmen« gefördert werden. Dies soll allerdings nur geschehen, wenn es die »organisatorischen und personellen Voraussetzungen« zulassen. Auf einen solchen Passus verweist auch die Kultusministerkonferenz (KMK) schon seit Jahrzehnten. Man würde ja gerne, aber das Geld fehlt leider – seit Jahren bleibt die Argumentation gleich.
Das droht auch in Hamburg so zu werden. Denn z.B. für die Entlastung der Lehrer oder mehr Personal wird wenig Geld zur Verfügung gestellt. Und das, obwohl auf die Lehrer aufgrund der Berichtszeugnisse, der Teamfortbildungen und der Anwendung neuer Lehrmethoden ein Großteil der zusätzlichen Arbeit zukommt. Wie in drei Jahren die Sonderschulen aufgelöst werden sollen, kann auch die Pressesprecherin der Behörde für Bildung, Annegret Witt-Barthel, nicht beantworten. »Dazu kann ich nichts sagen. Wir wollen jetzt zuerst die Schulreform im Zeitplan schaffen. Nach der erfolgreichen Umsetzung planen wir dann den nächsten Schritt«, sagt sie.

Warum die Sonderschulen nicht mit der Einführung der Primarschulen abgeschafft werden, bleibt ein Rätsel. Denn gerade eine große Zahl der Förderschüler gehört zu der Gruppe der »Risikoschüler«, denen die Grundfähigkeiten im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften fehlen. Sie werden in der Reform zunächst nicht berücksichtigt. »Hamburg hat bundesweit den höchsten Anteil so genannter Risikoschüler. Konzepte für sie fehlen im Rahmenkonzept des Senats vollkommen«, sagt der Sonderpädagoge Daniel H.* Und so müssen die Sonderschüler während des Umbaus des Schulsystems weiterhin in ihren maroden Schulen sitzen. Viele dieser Gebäude sind in schlechtem Zustand, das Geld für Sanierungsmaßnahmen wurde aber fast gänzlich gestrichen. Schließlich sollen die Schulen in drei Jahren ja aufgelöst werden.

*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt.