Die Ziele der EU-Staaten in der Krise

Schuld sind immer die anderen

Entgegen ihrem Bekenntnis zur »einheitlichen Wirtschaftspolitik« verfolgen die EU-Staaten in der Krise ihre eigenen Ziele. Vor allem Deutschland hat kein Interesse daran, durch gemeinsame Krisenpolitik andere EU-Länder zu stützen.

Zügig rückt die Krise näher. Nachdem monatelang marode Banken und Versicherungen für eine apokalyptische Stimmung sorgten, geraten mitt­lerweile immer mehr Industrieunternehmen in Bedrängnis. In ganz Europa kommt es zu Massen­entlassungen und Firmenpleiten, ein Rettungspaket folgt dem anderen. Manche Regierung tritt daher die Flucht nach hinten an und versucht, einheimische Unternehmen mit nationalistischen Maßnahmen zu schützen.
So stellte kürzlich der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Autoherstellern Re­nault und PSA Peugeot-Citroën ein sechs Milliarden Euro schweres Hilfspaket in Aussicht – unter der Voraussetzung, dass sie die Mittel nur für die Binnenproduktion verwendeten. »Wir wollen damit aufhören, die Fabriken ins Ausland zu verlagern – und vielleicht holen wir sie zurück. Wenn wir der Autoindustrie Finanzhilfen geben, dann wollen wir nicht, dass sich erneut eine Fabrik in die Tschechische Republik absetzt«, so Sarkozy.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Sollte Sarkozy seine Drohung wahr machen, würde er Gaz de France nach Hause schicken, erwiderte prompt der slowakische Minister­präsident Robert Fico. Als auch die EU-Kommission in Brüssel heftig protestierte, ruderte Sarkozy zurück und verzichtete auf die protektionistische Klausel. Gleichwohl betonte er, dass die fran­zösischen Hersteller zumindest moralisch weiterhin verpflichtet seien, zuerst an das eigene Land zu denken. Die französische Zeitung Libération berichtete am vergangenen Wochenende sogar von möglichen »geheimen Absprachen« zwischen den Behörden und den Autoherstellern in Paris. Demnach werde der Protektionismus offiziell verurteilt, im Geheimen wolle man jedoch an den Bedingungen festhalten. Die EU-Kommission kündigte zwar an, dass sie die französische Initiative »aufmerksam verfolgen« werde. Wie sie aber eventuelle Absprachen überprüfen will, bleibt ihr Geheimnis.
Auch andere EU-Staaten agieren nach einem ähnlichen Muster. Autohersteller sollen nur dann staatliche Hilfe erhalten, wenn sie im Inland keine Jobs abbauen, verkündet der spanische Industrieminister Miguel Sebastián. In Italien kom­men die Verschrottungsprämien für Autos und Haushaltsgeräte vor allem einheimischen Herstellern wie Fiat, Ducati oder Candy zugute. Im Kon­junkturprogramm der slowakischen Regierung werden einheimische Unternehmen explizit bevorzugt. Und der ungarische Landwirtschaftsminister József Graf will sogar dafür sorgen, dass in den Supermärkten des Landes künftig 80 Prozent des Sortiments aus nationaler Produktion stammen.
Dabei betonen die Regierungsvertreter gerne in ihren Sonntagsreden, wie zuletzt auf dem EU-Sondergipfel am Wochenende in Brüssel, die Notwendigkeit einer einheitlichen europäischen Wirtschaftspolitik. Aus einem »nationalen Egoismus« könnten die großen Volkswirtschaften möglicherweise kurzfristig Vorteile ziehen, erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk. Sie müssten sich aber darüber klar sein, dass sie dadurch eine »reale Gefahr für das Wesen der ganzen Europäischen Union« heraufbeschwörten. Protektionismus sei für ihn ein Schimpfwort, pflichtete ihm anschließend ausgerechnet der fran­zösische Premierminister bei. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach wiederholt von einem »gemeinsamen Wettbewerbsfeld«, dass nicht durch die Maßnahmen der einzelnen Staaten verzerrt werden dürfe.

Die reale Politik sieht jedoch anders aus, wie gerade das deutsche Beispiel zeigt. So hatte sich die Bundesregierung in den vergangenen Monaten mehrfach vehement gegen ein europäisches Konjunkturprogramm gestemmt. Anschließend legte sie jedoch mehrere Programme auf, von denen in erster Linie die deutsche Industrie profitiert. Vor allem aber bediente sie sich seit Jahren einer sehr effektiven Methode, um die Konkurrenz abzuhängen – ganz ohne Subventionen und Einfuhrzölle. Ohne jede Absprache mit den anderen Mitgliedern der Euro-Zone hatte Deutschland mehrfach die Lohnnebenkosten gesenkt, um den einheimischen Unternehmen einen Kostenvorteil zu sichern. Zudem sanken die Reallöhne nach einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen acht Jahren um 0,8 Prozent, während sie in den meisten anderen EU-Staaten deutlich anstiegen.
Im Vergleich zur gesamten Euro-Zone fielen die durchschnittlichen Lohnstückkosten in Deutschland um 14 Prozent. In Frankreich nahmen sie hin­gegen um drei, in Spanien sogar um rund neun Prozent zu. Die ohnehin schon enormen deutschen Ausfuhren sind deswegen in den vergange­nen Jahren noch einmal sprunghaft gestiegen. Der Exportanteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt kletterte von 33 auf 47 Prozent – »eine tektonische Verschiebung«, wie die Financial Time Deutschland urteilt. Und dies, obwohl mit China, Brasilien oder Indien neue aggressive Wettbewerber angetreten sind. Die protektionistischen Maßnahmen einzelner EU-Staaten wirken angesichts dieser Umstände eher hilflos.

Offensichtlich waren zumindest in Europa nur die Deutschen bereit, diese Kombination aus extremer Kostensenkung und schwacher Binnennach­frage zu durchleiden. Kein anderes europäisches Land hat sein Wachstum so einseitig vom Export abhängig gemacht, und nirgendwo scheint die Bevölkerung so ausdauernd bereit zu sein, die Kosten dafür zu tragen: In den vergangenen Jahren wurde in Frankreich sechs Mal und in Spa­nien sogar zwölf Mal soviel gestreikt wie in Deutschland.
Die Kehrseite bekommen nun vor allem die »Part­ner« in den anderen EU-Staaten deutlich zu spüren. Seit der Euro-Einführung können sie nicht mehr wie früher ihre Landeswährungen abwerten, um die eigenen Produkte wettbewerbsfähig zu halten. Während die deutsche Industrie jedes Jahr einen neuen Exportrekord aufstellt, wächst umgekehrt in den anderen europäischen Ländern das Handelsdefizit. Den meisten EU-Ländern bleibt daher nicht viel anderes übrig, als dieses Defizit durch Kredite zu finanzieren. In Irland beträgt die private Verschuldung bereits 179 Prozent des Bruttosozialprodukts, in Ländern wie Griechenland, Portugal oder Italien liegt sie nur knapp darunter. Ähnlich prekär ist die Situation in den osteuropäischen EU-Staaten. Bulgarien, Ru­mänien oder Lettland haben durch ihre jahrelange Defizitkonjunktur wundersame Wachstums­raten erzielt, wobei vor allem deutsche und österreichische Unternehmen von der neuen Nachfrage profitierten. Nun stehen sie kurz vor der Zahlungsunfähigkeit und müssen um Notkredite bitten.
Auf Deutschland brauchen sie dabei nicht zu hoffen. Auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel hatte Angela Merkel unvermissverständlich klar gemacht, dass es keine speziellen Rettungspakete für Osteuropa geben werde. Finanzminister Peer Steinbrück hatte bereits in der Vergangenheit solche »Sonderwünsche« immer brüsk zurück gewiesen. Deutschland könne nicht »Zahlmeister Europas« sein und nun die Ausgaben derjenigen Länder finanzieren, die sich zuvor nicht um ihre finanziellen Reserven gekümmert hätten. Schuld an der Misere sind immer die anderen. Dass die dramatischen Haushaltsdefizite der EU-Staaten ursächlich mit dem deutschen Export­überschuss zusammenhängen, wird dabei verschwiegen.
Wenig überraschend lehnte Steinbrück daher den Plan des luxemburgischen Premier- und Finanzminister Jean-Claude Junckers ab. Der hatte vorgeschlagen, dass die Euro-Länder gemeinsam Anleihen ausgeben sollten, um damit den schwachen Mitgliedsstaaten neue Finanzierungsmöglichkeiten zu geben. Dagegen sollten nach Steinbrücks Vorstellung die EU-Staaten nach deutschem Vorbild lieber einen strikten Sparkurs verfolgen, anstatt Geld auszugeben, dass ihnen nicht gehöre.
Als einziger der großen EU-Staaten tanzt Großbritannien derzeit aus der Reihe. Im Februar hatte sich die Bank von England für eine »quantitative Lockerung« der Geldpolitik ausgesprochen: Die Notenbank soll Staatsanleihen erwerben, um dadurch die Geldmenge zu erhöhen. Faktisch finanziert der britische Staat damit den Kauf seiner eigenen Wertpapiere über die Notenpresse. Einen ähnlichen Weg hat bereits die US-Notenbank Federal Reserve eingeschlagen. Eine Maßnahme, die von latenter Verzweiflung zeugt. Das Pfund verliert weiter an Wert – das verbilligt britische Produkte, erhöht aber auch das Inflationsrisiko. Am Ende könnte Großbritannien sich gezwungen sehen, doch noch den ungeliebten Euro einzuführen.
In Deutschland warnt man indes schon vorsorg­lich vor der Rückkehr des »Inflationsgespensts« (Die Zeit), für den Fall, dass der Aufschwung wieder einsetzt. Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich die Mahnung vorzustellen, die dann unweigerlich folgen wird: In einer solchen Situation dürften die Löhne auf keinen Fall steigen.