Hausbesetzungen sollen in den Niederlanden kriminalisiert werden

Schlaraffenland war gestern

Die Niederlande wollen ein Gesetz verabschieden, das Hausbesetzungen unter Strafe stellt. Das bedeutet das Ende eines Mythos.

Das international bekannteste niederländische Wort? Polder vielleicht, kaas, koffie – je nachdem, was einem wichtig ist im Leben, gibt es da verschiedene. Für alle, die in den vergangenen Jahrzehnten mit autonomer Politik, alternativer Kultur oder sozialen Bewegungen in Kontakt kamen, dürfte jedoch kraken ganz oben auf dieser Liste stehen. Nicht, dass das Besetzen von Häusern an sich eine niederländische Spezialität wäre. Vielmehr bot die Tatsache, dass Squats in den Niederlanden unter bestimmten Umständen geduldet wurden, im repressiveren Normalzustand vieler anderen Länder reichlich Stoff für Mythen.
Es klang aber auch zu gut: Gebäude, die ein Jahr lang leer standen, konnten straffrei besetzt werden. Gesetzeswidrig war nur das Aufbrechen des Hauses, bei dem man sich nicht ertappen lassen durfte. Die Polizei rief man selbst, auf dass sie Leerstand und Hausfrieden feststellte. Ein kraaksetje, bestehend aus Bett, Tisch und Stuhl, demonstrierte den Beamten die »Wohnsituation«, die sie sehen wollten. In den siebziger und acht­ziger Jahren waren alleine in Amsterdam mehr als 1 000 Gebäude besetzt. In dieser Zeit wurden die Niederlande zu einer Projektionsfläche für linksradikale Utopien. Natürlich gab es auch Räu­mungen, brutale Polizeieinsätze und anderes Ungemach. Dennoch wähnte manch einer hier das »Schlaraffenland der Freiräume«, und mitten hindurch sprangen als sympathische Protagonisten die allzeit fröhlichen krakers.

Doch damit soll es nun vorbei sein. Mitte Oktober nahm das niederländische Parlament einen Gesetzesantrag an, der das kraken illegal macht. Auf Hausbesetzen soll ab 2010 eine Freiheitsstrafe von einem Jahr stehen. Ist dabei Gewalt im Spiel, kann sich die Strafe verdoppeln. Das bedeutet zwei Jahre und acht Monate Haft, denn dieses Maximum gilt für eine gewaltsame Besetzung »im Gruppenverband«. Besetzungen durch Individuen sind allerdings in den Niederlanden bekannt.
Die Initiatoren des Gesetzes, die Christdemokraten, ihre Koalitionspartnerin, die fundamentalistische Christen-Union sowie die rechtsliberale VVD machen sich bereits seit sechs Jahren für ein Verbot stark. Mehrheitsfähig wurden sie jedoch erst in diesem Herbst durch die Unterstützung der rechten Freiheitspartei (PVV). Auf deren Drängen wurde das ursprünglich geplante Strafmaß von vier Monaten drastisch angehoben. Die PVV sprach hinterher selbstzufrieden von einem »wichtigen Sieg für das Eigentumsrecht« – der freilich vom Senat, der anderen Parlamentskammer, noch bestätigt werden muss.
Die lange Vorlaufzeit und schwierige Mehrheitsbeschaffung zeugen davon, dass das Verbot das Ergebnis eines langfristigen Prozesses ist, eines tiefgreifenden Wandels der politischen und sozi­alen Kultur in den Niederlanden. Auf der einen Seite sieht noch immer knapp die Hälfte des Parlaments das kraken als legitime Maßnahme, um auf unsoziale Wohnungspolitik Einfluss zu nehmen. Die Bürgermeister vieler Großstädte, in deren Zentren bezahlbarer Wohnraum Mangelware ist, halten das Verbot für überflüssig und akzeptieren die Besetzungen als eine Art Korrektiv eines libe­ralisierten Wohnungsmarkts. Die Vereinigung Niederländischer Gemeinden hält ein Verbot zu diesem Zweck ebenfalls für ungeeignet. Die landesweite Mieterorganisation Woonbond rief das Parlament auf, gegen das Gesetz zu stimmen. All dies zeigt eine große Akzeptanz für Hausbesetzungen, die lange Zeit bis weit ins bürgerliche Milieu herrschte.
Dagegen stehen nun die Befürworter des Verbots. Das sind konservative Parteien und eine wachsende Schicht des besagten Bürgertums, die Eigentumsrechte höher ansiedeln als das Recht auf erschwingliches Wohnen. In den Diskussionen um das Gesetz argumentieren sie nicht nur mit Klischeebildern, die Hausbesetzer pauschal als kriminell und gewalttätig abstempelten, sondern auch mit der Anziehungskraft der Niederlande auf Squatters aus anderen Ländern. Passend dazu wurden am Tag der Abstimmung zwei Mitglieder des Kraakcafés im ehemaligen Squat Vrankrijk im Zentrum Amsterdams wegen schwerer Misshandlung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einer Auseinandersetzung hatten sie 2008 einen Cafégast zusammengeschlagen. Dieser Fall sowie Gewaltanwendung gegen Polizisten bei Räumungen beeinflussten die öffentliche Diskussion in den vergangenen Jahren mehr als der weiterhin gravierende Wohnungsmangel.

Beispielhaft für diese Akzentverschiebung ist ein spezifisch niederländisches Phänomen der vergangenen Jahre, das unmittelbar mit Prekarisierung und Wohnungsmangel zusammenhängt und als antikraak bekannt ist. Besitzer leer stehender Gebäude vermieten diese für unbestimmte Perioden zu ziemlich günstigen Bedingungen, damit sie nicht leer stehen und so nicht zu potentiellen Zielen für kraker werden. In Großstädten gibt es dafür zahlreiche »Antikraakbüros«, die solchen Wohnraum vermitteln und inzwischen lange Wartelisten haben. Bei Eigenbedarf kann der Besitzer das Verhältnis, dem kein Mietvertrag zu Grunde liegt, innerhalb von zwei Wochen kün­digen. Häufiges Umziehen gehört zu einer Existenz als antikraaker.
Vor allem Studenten und Künstler lassen sich immer häufiger auf diese Form des Stadtnomadentums ein. »Antikraak wohnen« ist für viele Menschen eine Alltagserscheinung geworden, selbst wenn nicht wenige von ihnen dem kraken eigentlich näher stehen, als der Name vermuten lässt. Dass kraker in den vergangenen Jahren mehrfach gegen antikraaker vorgingen, stieß daher außerhalb der eigenen Szene vor allem auf Befremden.
Gegen alle widrigen Umstände verbreiten Hausbesetzer dieser Tage Durchhalteparolen. »Kraken geht weiter«, hallte es nach der Abstimmung von der Publikumstribüne des Parlaments, bevor die Vorsitzende der Abgeordnetenkammer diese räumen ließ. Bis in die Nacht fanden auf dem Vorplatz Proteste statt, 100 kraker wurden zum Teil gewaltsam festgenommen. Am vergangenen Wochenende fand in Utrecht eine Großdemonstration mit etwa 1 000 Teilnehmern statt. Auf Unterstützung zählt man dabei auch aus dem weiteren Umfeld. Schließlich waren kraker länger als drei Jahrzehnte ein Katalysator für das Besetzen gesellschaftlicher Nischen, in denen zahlreiche linke Initiativen, Verlage oder Kulturzentren entstanden. Viele von ihnen drückten dies im Zuge der Diskussion um das Verbot durch ein Banner an den Fassaden von besetzten Gebäuden aus: »Ermöglicht durch die Kraak-Bewegung«.
Einfach verschwinden, wie sich das die Initiatoren des Gesetzes ausmalten, wird die Bewegung jedenfalls nicht. Dafür ist sie in der Gegenkultur der Niederlande zu stark verankert. Und nicht zuletzt gibt es da noch eine Wohnungspolitik, die den in vielen Städten angebotenen »Kraak-Sprechstunden« weiterhin Zulauf beschert. Wie ein Aktivist anlässlich des Verbots sagte: »Wir machen das ja nicht, weil es legal ist.«