Über die Gesundheitsreform in den USA

Zu früh für Teddybären

Die vom US-amerikanischen Re­prä­sen­tan­ten­haus verabschiedete Gesundheitsreform ist nicht nur unter Republikanern umstritten. Auch in der Demokratischen Partei regt sich Widerstand. Denn der Erfolg der ersten Abstimmung war nur dank eines Kompromisses in der Abtreibungsfrage möglich.

Es ist eine überschaubare Menschenmenge, die sich vor der historischen Kathedrale La Placita in Downtown Los Angeles versammelt hat. Hier haben sich Wähler und Gewählte zusammengefunden, um gemeinsam für die amerikanische Gesundheitsreform zu demonstrieren – aber auch, um sich bei der Abgeordneten Lucille Roybal-Allard für ihre Stimme im Kongress zu bedanken. Der Aufruf kam von der Bürgerrechtsbewegung Health Care For America Now, und den Teilnehmern wurde nahe gelegt, der Abgeordneten Briefe, Blumen und Teddybären zu überreichen.
Für Blumen und Teddys ist es allerdings vermutlich noch etwas zu früh, denn die Abstimmung im Senat für die Reform des Gesundheitssystems, die das US-Repräsentantenhaus am 7. November verabschiedete, steht noch bevor. Und deren Ausgang ist äußerst unsicher. Der majority leader der Demokraten im Senat, Harry Reid, hat den entsprechenden Antrag bereits eingereicht, in den nächsten Tagen könnte es zur ersten Wahlrunde kommen. Für die Demokraten ist Eile geboten, denn man will verhindern, dass über die Feiertage am Ende des Jahres der Widerstand bei Bürgern und Opposition wächst wie bereits während der Sommerpause.

Derlei ist nichts Neues in der US-amerikanischen Politik. Bereits Theodore Roosevelts Versuch, eine Gesundheitsreform zu verabschieden, scheiterte im Jahr 1912. Als Nächster wagte sich Harry S. Truman an das heikle Thema. Er schlug 1949 als Teil seiner Fair-Deal-Politik eine Bürgerversicherung vor, aber auch er scheiterte an der starken Opposition. Einen Teilerfolg konnte Lyndon B. Johnson im Juni 1965 verbuchen, er konnte das so genannte Medicare-Programm für Rentner gesetzlich festschreiben und so eine Krankenversicherung für ältere Menschen schaffen. Der letzte Präsident, der mit seinen Reformversuchen scheiterte, war Bill Clinton. Nun ist Barack Obama an der Reihe. In seiner ambitionierten politischen Agenda ist die Gesundheitsreform eines der wichtigsten Vorhaben. So weit wie jetzt waren die Demokraten mit ihren Reformen im Gesundheitssystem noch nie gekommen.
So sagte Barack Obama auf einer Pressekonferenz im Rosengarten des Weißen Hauses vergangene Woche, er freue sich darauf, »bis Ende des Jahres« ein entsprechendes Gesetz zu unterzeichnen, und forderte den Senat auf, das Gesetz möglichst bald zu verabschieden. Doch bevor es so weit ist, muss nach den protokollarischen Regeln erst einmal darüber abgestimmt werden, ob der Gesetzesentwurf überhaupt vorgelegt werden darf. »Vote to vote« nennt sich das, es bedarf 60 Stimmen, um einen Gesetzesentwurf zur Abstimmung zuzulassen. Sollten diese nicht zusammenkommen, hätten die Republikaner mit einem so genannten Filibuster – einer Obstruktionstaktik, bei der eine Minderheit durch lange Reden eine Beschlussfassung durch eine Mehrheit zu verhindern oder zu verzögern versucht – das Gesetz erfolgreich blockiert.

Eigentlich ist die Filibuster-Regelung für nationale Notfälle oder Ausnahmen vorgesehen, doch inzwischen stellt sie das wichtigste politische Druckmittel der ansonsten weitgehend machtlosen Opposition dar. Die Demokraten haben zwar mit 58 Sitzen im Senat die Mehrheit, sie müssen aber geschlossen abstimmen und noch zwei Independents oder Republikaner auf ihre Seite ziehen. Und das könnte schwierig werden. So hat beispielsweise Joe Lieberman, der ehemalige demokratische Vizepräsidentschaftskandidat aus Connecticut, bei einem Fernsehinterview vergangene Woche beteuert, eine Abstimmung aus »Gewissensgründen« verhindern zu wollen. Und damit ist er nicht allein. In den Reihen der Demokraten regt sich heftiger Widerstand.
Denn der Erfolg der Abstimmung im Senat war nur dank eines Kompromisses in der Abtreibungsfrage möglich.
Viele Demokraten sind entsetzt über das so genannte Stupak-Pitts-Amendment, eine Abtreibungsklausel, die in letzter Minute eingesetzt wurde, um einer möglichen Kritik der Konservativen zuvorzukommen. Die Klausel verbietet nicht nur einer staatlichen Krankenkasse, die Kosten für Abtreibungen zu übernehmen. Auch der private Zugang zu Abtreibungen soll stärker eingeschränkt werden, als dies seit 1973 der Fall war. Nach Angaben von Planned Parenthood, dem amerikanischen Zweig von Pro Familia, wären in den USA an die 60 Millionen Frauen davon betroffen, vor allem Geringverdienerinnen und Berufseinsteigerinnen.
Um das Amendment wieder zu entfernen, hat die demokratische Kongressabgeordnete Diana DeGette bereits angefangen, Unterschriften zu sam­meln. »Es wird einen Aufschrei geben«, sagte DeGette, »wenn Frauen klar wird, dass ein demokratischer Kongress ein Gesetz verabschiedet hat, das es ihnen verbietet, mit ihrem eigenen Geld für eine Abtreibung zu zahlen. Wir lassen nicht zu, dass das Gesetz verabschiedet wird.«
Die Debatte nimmt mitunter seltsame Züge an. Manche konservative Abgeordnete schnappen sich die Babys ihrer Angestellten, um sie demonstrativ in die Fernsehkameras zu halten.

Obama möchte es, wie immer, allen Recht machen. Und erreicht bislang das Gegenteil. Die Demokraten müssen mit ihrem fast 2 000 Seiten langen, acht Kilogramm schweren Gesetzentwurf mit dem schönen Namen »H.R. 3962« einerseits den linken Flügel ihrer eigenen Partei für sich gewinnen, andererseits noch um die Stimmen einiger Republikaner werben. Diese begrüßen zwar die Abtreibungsklausel, weniger aber die so genannte Public Option, nämlich den Versuch, in den USA eine allgemeine staatliche Krankenkasse einzuführen. Auch innerhalb der Demokratischen Partei ist die Public Option umstritten. »Die Kosten will ich unseren Kindern und Enkeln nicht zu­muten«, sagt der ehemalige Demokrat Joe Lieberman. Neben ihm haben noch drei weitere demokratische Senatoren – Blanche Lincoln aus Arkansas, Mary Lan­drieu aus Louisiana und Ben Nelson aus Nebraska – erklärt, dass sie die Reform nicht mittragen wollen. Nach Ansicht vieler Amerikaner steht die Vorstellung einer staatlichen Krankenkasse einer politischen Doktrin entgegen, die sich weniger Staat und mehr Marktfreiheit wünscht. Ginge es nach ihnen, wäre eine Reform am besten durch Steuerrabatte und eine stärkere Aufsicht der Versicherungen zu erreichen.
Doch die Public Option ist für viele Stammwäh­ler der Demokraten das Wichtigste an der Re­form. Zumindest für die Menschen, die sich vor der alten Kathedrale versammelt haben. Lucille Roybal-Allard, die Kongressabgeordnete des Wahl­bezirks Downtown Los Angeles, weiß, worum es bei der Reform und der Public Option geht. Ei­ne Viertelmillion Menschen in ihrem Wahlkreis, einem der ärmsten Kaliforniens, kann sich keine Krankenversicherung leisten. Das ist etwa ein Drit­tel ihrer Wähler. Fast 1 200 Familien konnten allein 2008 ihre Arzt- oder Krankenhausrechnungen nicht zahlen und mussten deswegen Kon­kurs anmelden. »Die gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht und kein Privileg«, sagt Roybal-Allard in ihrer Rede vor den Teilnehmern. »Wir müs­sen auf jeden Fall dafür kämpfen, dass die Public Option zum Gesetz wird.« Es geht dabei auch um ihre eigene politische Zukunft. Wenn Wähler sich bedanken, erwarten sie Leistung. Denn erst kommt die Reform, dann kommen die Teddy­bären.