Das Urteil über verkaufsoffene Sonntage

Wille zum Luxus

Die gebeutelten Mitarbeiterinnen im Einzelhandel werden demnächst wieder freie Sonntage haben. Das verdanken sie nicht dem Arbeitskampf, sondern der Tradition.

Manchmal höre ich im Supermarkt, während sie meine Einkäufe über den Scanner zieht, eine Emily der andern klagen: »Heute sitze ich noch bis 10 hier rum.« Sie arbeitet schon seit Stunden und wird erst zu Hause sein, wenn die Kinder längst vor dem Fernseher eingeschlafen sind. Sie weiß nicht, wie die Arbeitszeiten an den nächsten Tagen ausfallen werden. Sie kriegt zwischen 9 und 12 Euro brutto, der Minijobber, der ihr vor allem abends den Job streitig macht, noch weniger.
Als 1996 der Ladenschluss liberalisiert worden ist, beteuerten die Arbeitgeber, das werde nicht zum Schaden der Beschäftigten sein. Angenehme Arbeitszeitregelungen würden gefunden, neue Stellen geschaffen. Es bedurfte keiner marxistischen Schulung, die Lüge zu begreifen. Selbst die Links­liberalen werden sie durchschaut haben. Es war ihnen bloß egal, dass Einzelhandelsketten danach Mitarbeiter entlassen und nicht welche eingestellt haben. Die Taz trat damals beherzt für die Rechte der »KonsumentInnen« ein und behauptete, die Gewerkschaften versuchten lediglich, »lieb gewonnene Gewohnheiten zu betonieren«. Der Spiegel hielt es für ein Argument, in anderen Branchen gebe es längst flexible Arbeitszeiten. Die Süddeutsche warnte vor einem »Einkaufsverbot für alle«. Und schon 1996 konnte man wissen, dass das erst der Anfang war.
Heute halten viele Supermärkte bis Mitternacht geöffnet und bedauern, dass rückständige Gesetze die Nachtarbeit verbieten. Was fehlte also noch? Dass man auch am Sonntag durch die Ware laufen und sich anschauen kann, wofür das Geld fehlt. Berlins Shoppender Bürgermeister, der übrigens, wir vergessen das manchmal, einer Koalition von SPD und Linkspartei vorsteht, wollte dafür sorgen. Shoppen rund um die Uhr – er oder ein anderer wird das noch durchsetzen. Aber vorerst haben ihn die Kirchen gestoppt. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Berliner Regelung im Konflikt mit Artikel 140 des Grundgesetzes.
Nun steht in diesem Artikel nichts von Emily, ihren Kindern, den Minijobbern und dem Terror des Filialleiters. Der Artikel wiederholt lediglich das, was bereits die Weimarer Reichsverfassung bestimmt hat: »Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erbauung gesetzlich geschützt.« Der Zusammenhang ist klar religiös. Ist Emily überhaupt fromm? Braucht sie seelische Erbauung? Sie braucht bloß Zeit, und die nimmt sie von dem, der sie ihr gibt, notfalls vom Lieben Gott.
Hier sind also nicht nur lieb gewonnene, sondern völlig überholte Gewohnheiten betoniert, oder sagen wir besser: unter staatlichen Schutz gestellt worden. Es ist deshalb lediglich ein kurzer Aufschub erreicht. Der Kapitalismus wird auch dieses Bollwerk schleifen. Aber solange sich seine Opfer seiner nicht zu erwehren wissen, bleibt die Tradition klüger als der Fortschritt.
Kürzlich kam ich an einer Schusterwerkstatt vorbei und stutzte. Da ist allen Ernstes angeschlagen: »Mittagspause von 12 bis 14 Uhr«. Zwei Stunden! Jeden Tag! Samstags und sonntags frei! Eine kleine Sensation in Berlin. Der Mann kann in Ruhe sein Mittagessen zu sich nehmen und danach auch noch ein Pfeifchen durchziehen, selbst wenn derweil empörte »KonsumentInnen« an seine Türe hämmern. Vor soviel Willen zum Luxus kann ich nur meine Mütze ziehen.