Das neue Album von Tocotronic

Jetzt bloß nicht kapitulieren!

Das Jammerlied »Früher waren die auch mal besser« kann man sich in diesem Fall sparen. Tocotronics neues Album »Schall und Wahn« ist die klanggewordene Fusion von Diskurs und Poesie.

Selbstbefriedigung geht in Ordnung. Selbstauslöschung auch. Aber an­sons­ten ist Do-It-Yourself-Werkeln das Allerletzte. Zu diesem Schluss kommt Dirk von Lowtzow in der ersten Single-Auskopplung von Toco­tronics neuem Album. »Macht es nicht selbst« heißt der Anti-DIY-Song, den die Band als soundgewordenen Widerstand gegen den Imperativ der totalen kreativen Selbstmobilisierung verstanden wis­sen will, als Manifest gegen die Heim- und Netzwerkerei, dem Makramee unserer Zeit.
»Schall und Wahn« heißt das neue Werk, das rund drei Jahre nach dem hymnisch gefeierten Album »Kapitulation« erschienen ist. Zur Erinnerung: »Kapitulation« wurde im Feuilleton wie ein politisch-theoretisches Manifest besprochen, nicht wie eine Schallplatte. Für »Schall und Wahn« wurde aber so konzentriert an den Sounds gefeilt, dass auch hauptberufliche Tocotronic-Exegeten den Schönheiten der klanggewordenen Diskurse erliegen werden.
»Im Zweifel für den Zweifel/das Zaudern und den Zorn«, singt Dirk von Lotzow, und das klingt gewohnt blutleer, aber auch gut, sympathisch, klug. In Stücken wie »Zweifel« wird nicht mehr gefordert, Teil einer Jugendbewegung zu sein. Man will sich nicht mehr durch ein be­stimm­tes Statement definieren, will raus aus allen Uniformen, man nimmt die Welt, wie sie ist, und versucht dennoch, sich in ein Verhältnis zu seiner Umwelt zu setzen. Mal wird mit Descartes gezweifelt, mal mit Kierkegaard verzweifelt. Die Texte sind eine überzeugende Fusion von Diskurs und Poesie.
Auf dem zwölf Songs beinhaltenden Album fin­det sich zu jeder Aussage auch gleich ein Gegenpart, ständig werden die eigenen Statements wieder in Frage gestellt. »Bitte oszillieren Sie/Zwischen den Polen/Bumms und BI«, lautet die höflich vorgetragene Aufforderung in dem Nonsens-Song »Bitten oszillieren Sie«. Egal wie komisch die Texte gemeint sind: Gegensätzliches trifft aufeinander, und jeder Pol hat seinen Gegenpol. Der geschätzten Dialektik bleiben Tocotronic auch diesmal treu.
So wird im Song »Ein leiser Hauch von Terror« mit Begriffen gespielt, die einem aus der Romantik bekannt sind. Da geht’s über »Bergeshöhen« in die »Täler«, und lyrisch wird gelockt: »Leg deine Stimme an mein Ohr«. Das ist schon heftiger Kitsch, rockt dank der verzerrten Gitarren im Hintergund aber dennoch. »Schall und Wahn« ist eins dieser Alben, bei denen man die ewige »Früher waren die besser«-Tirade getrost beiseite lassen kann.
Noch kitschiger – und dann aber auch unrettbar süßlich – wird es allerdings, wenn in dem Lied »Das Blut an meinen Händen« die Streicher einsetzen. Das tut richtig weh, jedenfalls wenn man sich den Song mit In-Ear-Köpfhörern zu Ge­müte führt. Wenn Lowtzow mit hoher Stimme »Du schönster Neid/Du schönste Gier/Du schöns­te Feigheit/Bleib bei mir« singt, ist das zu viel des Guten. Es ist ein Refrain, der in einer katholischen Christmesse nicht weiter auffallen würde, und der Ausreißer auf dem ansonsten guten Album. Kritik muss eben sein.
»Eure Liebe tötet mich« kann dann auch als Kritik der Band an allzu ergebenen Fans verstanden werden. Diese Auslegung hat die Band in einigen Interviews jedenfalls als nicht ganz abwegig angesehen, aber wie immer verweigern Tocotronic allzu einfache Erklärungen. Es bleibt bei der Aussage, dass Liebe einengt und einem den Freiraum nimmt. Das ist Popmusik, die wahre Massen an Deutungen zulässt, das sind Stücke, in denen jeder etwas finden kann, ob er nun im philosophischen Seminar gesessen hat oder als Bedienung in der Kneipe schuftet.
Die Berlin-Trilogie der Band hat mit dem opulenten dritten Album einen würdigen Abschluss gefunden. Und rotzig-punkig ein paar Forderungen raushauen, auch das kann diese sehr erwachsen gewordene Band noch ziemlich gut. In »Stürmt das Schloss« wird wie in alten Zeiten gesungen: »Ausgesperrte/Stürmt das Schloss/Weggesperrte/Stürmt das Schloss/Ungewollte/Stürmt das Schloss.« Es geht also weiter.

Tocotronic: Schall und Wahn. Vertigo/Universal