Korrupte Milizionäre in Russland

Der Major bittet zur Kasse

Immer häufiger berichten russische Medien, offenbar ermutigt von der Regierung, über korrupte und gewalttätige Milizionäre. Zu weit soll die Kritik aber nicht gehen.

Die einstmals übliche Anrede »Genosse Major« für einen Milizionär entsprechenden Ranges gehört in Russland längst der Vergangenheit an. Der Grund dafür ist nicht nur, dass das Wort Genosse mit einem anderen sozialen System asso­ziiert wird. Ein sowjetischer Milizionär galt zudem als Repräsentant einer nicht hinterfragbaren staatlichen Autorität, dem man mit Respekt zu begegnen hatte.
Heute ist es keinesfalls die Achtung vor dem Rang, die russische Bürger dazu veranlasst, Befehlen und Anweisungen eines Milizionärs Folge zu leisten. Vielmehr überwiegen Angst und Unsicherheit. Man trifft auf Uniformierte, die nicht allein einen autoritären Staat repräsentieren, sondern sich bereits in den neunziger Jahren den Ruf erworben haben, an kriminellen Machenschaften teilzuhaben, Straftaten überaus selektiv zu ahnden, daraus nicht selten einen materiellen Nutzen zu ziehen und aus geringstem Anlass gewalttätig zu werden.

Über 70 Prozent der Bevölkerung misstrauen nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum der Miliz, ähnliche Ergebnisse gab es bei allen Umfragen in den vergangenen zehn Jahren. Eine bessere Meinung über die Miliz haben vor allem ältere Menschen, die kaum mit den Ordnungshütern in Kontakt kommen und an den Ansichten festhalten, die in der sowjetischen Zeit geprägt wurden.
Daran ändern offenbar selbst die zahlreichen Enthüllungen über die Zustände in der Miliz nichts, die im vergangenen Jahr im russischen Fernsehen zu betrachten waren. Der spektaku­läre Auftakt war der Fall von Denis Jewsjukow, einem Moskauer Milizionär im Rang eines Majors. Ende April 2009 erschoss er nach einer Feier einen Taxifahrer und betrat anschließend einen Supermarkt, wo er mit seiner Waffe, einer im Tschetschenien-Krieg verloren gemeldeten Makarow, weiter um sich ballerte. Eine Kassiererin kam dabei ums Leben, mehrere Menschen trugen teils schwere Verletzungen davon.
Erst im November 2008 war er zum Leiter des Milizreviers Tsaritsyno im Moskauer Süden ernannt worden, einer Dienststelle, die den unrühmlichen Ruf hat, dass ihre Mitarbeiter aus Festgenommenen Aussagen durch Anwendung physischer Gewalt herauspressen. Für Jewsjukows direkte Beteiligung an solchen Aktionen gibt es allerdings keine Beweise. Derzeit läuft ein Gerichtsverfahren gegen den nun ehemaligen Major, der behauptet, er könne sich an seine Tat nicht erinnern.
Der Fall Jewsjukow führte nicht nur zur längst überfälligen Absetzung des langjährigen Moskauer Polizeichefs, sondern auch, was viel wichtiger ist, zu einer verstärkten Debatte über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Milizreform. Beschlossen wurde unter anderem bereits ein Mitarbeiterabbau um 20 Prozent, auch wurde vorgeschlagen, eine Polizeiorganisation mit Vorgesetzten in Zivil nach europäischem Vorbild zu schaffen.

Eine beispiellose Medienkampagne gegen die »schwarzen Schafe« in der Behörde begleitete die Diskussionen. Landesweites Aufsehen erregte zuletzt die Nachricht vom Tod eines 47jährigen Journalisten in der sibirischen Stadt Tomsk. Anfang Januar war er ohne konkreten Anlass in einer Ausnüchterungszelle von einem Milizionär schwer misshandelt worden, zwei Wochen später erlag er seinen inneren Verletzungen. Im vergangenen Herbst verging kaum eine Woche, in der nicht wenigstens ein Fall polizeilicher Willkür und Gewalt bis hin zu Mord und Totschlag bekannt wurde. Die Redakteure der großen Medien mögen es als notwendig empfunden haben, auf den Unwillen in der Bevölkerung zu reagieren. Wahrscheinlicher aber ist, dass eine kritische Berichterstattung von der Regierung ermutigt oder auch angeordnet wurde.
Wohl kaum von oben sanktioniert und daher umso unerwarteter meldeten sich indes einzelne Milizmitarbeiter mit scharfer Kritik an ihrem Arbeitgeber zu Wort. In diesen Fällen allerdings blieb die Unterstützung der Massenmedien aus. Major Aleksej Dymowskij musste den Dienst quittieren, nachdem er sich im November erdreistet hatte, eine an den russischen Premierminister Wladimir Putin gerichtete Videoansprache ins Netz zu stellen. Darin berichtete er lediglich über bereits bekannte Probleme wie Korruption und den Zwang, Verbrechen zu erfinden, um das Plansoll an Verhaftungen erfüllen zu können.
Doch brach Dymowskij mit seiner Initiative das ungeschriebene Schweigegebot. Damit hat er den Hass seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und sich ein Strafverfahren wegen Betrugs und Amtsmissbrauchs eingehandelt. Er fand jedoch Nachahmer und eine Fangemeinde im Internet, die mit Spannung und Schadenfreude die Fortsetzung der Reality-Show verfolgt.
Anfang Februar schließlich erreichte die Skandalwelle das zweite Bataillon der Moskauer Elitepolizeitruppe Omon. Vier ehemalige und sechs aktive Angehörige von Omon waren in der Redaktion der regierungskritischen Zeitschrift New Times erschienen und hatten empört über die in ihrer Einheit herrschenden Zustände berichtet. Entsprechende Schreiben waren zuvor an die Administration des russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew und die Staatsanwaltschaft gegangen, allerdings haben die Omonovtsy mittlerweile erklärt, sie hätten nicht selbst unterzeichnet, die Unterschriften seien gefälscht worden..

Die Omonovtsy klagten über unverhältnismäßig lange Arbeitszeiten, sie sind zuweilen 20 Stunden täglich ohne Mittagspause in Dienst. Drei Festnahmen pro Schicht sind die Voraussetzung dafür, das bescheidene Grundgehalt von umgerechnet etwa 380 Euro mit einer Prämie auf knapp über 600 Euro aufzubessern. Insbesondere Obdachlose landen gelegentlich mehrmals täglich auf der Wache, so dass die 2 000 Moskauer Recken von Omon eine »Erfolgsquote« von 40 000 aufgedeckten Kleindelikten präsentieren können.
Wer über einen Wohnsitz in Moskau verfügt und trotz der schlechten Bezahlung zu Omon will, hat kaum Chancen. Die Leitung bevorzugt junge Männer mit geringer Bildung aus der Provinz. Denn solche Mitarbeiter verzichten meist schon wegen der Drohung, sie könnten ihren Platz im Wohnheim verlieren, auf jegliche Aufmüpfigkeit und lassen sich die Allüren ihrer Vorgesetzen gefallen. Diese wiederum sichern sich oft durch die Verleihung ihrer Untergebenen an Interessierte, die etwa Wächter für ihre Villa benötigen oder eine eigentlich legale Protestaktion auseinandertreiben lassen wollen, einen enormen Zuverdienst. Ein einziger Omon-Milizionär bringt seinem Vorgesetzten mindestens 250 Euro pro Tag ein.
Als dem zweiten Bataillon befohlen worden war, Proteste gegen einen Markt niederzuschlagen, wollte dessen Kommandeur die entsprechende schriftliche Order sehen. Die wurde ihm nicht gezeigt, stattdessen erhielt er eine Kündigung mit den Worten: »Du Blödmann hast richtig viel Geld versenkt.« Omonovtsy decken zudem oft Zuhälterei, stecken das obligatorische Bestechungsgeld für sich und die Vorgesetzten ein und werden bei Zahlungsunwilligen vorstellig.
Selbstverständlich dementiert das Innenministerium die Vorwürfe, der Moskauer Polizeichef Wladimir Kolokoltsew sagte dem Radiosender Echo Moskwy, die Journalisten würden ihr Material an falscher Stelle suchen, »wie die auslän­dischen Korrespondenten zu Sowjetzeiten«. Der Chef der Moskauer Milizgewerkschaft wiederum bestätigt die Aussagen der Omonovtsy, und auch die meisten Russen dürften keinen Zweifel daran hegen, dass sie wahr sind. Eine Mehrheit von zwei Dritteln der Bevölkerung spricht sich für eine öffentliche Kontrolle der Polizei aus.