Gespräch mit Alejandra Ancheita über Gewalt gegen Frauen in Mexiko

»Feminizid ist Alltag«

Alejandra Ancheita ist Vorsitzende der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Proyecto de Derechos Económicos, Sociales y Culturales (ProDESC). Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren als Fachanwältin für Menschenrechte in Mexiko, nahm 2005 am Human Rights Advocates Program der Columbia-Universität in New York teil und übernahm Fälle vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte sowie dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Als Menschenrechtsanwältin beschäftigen Sie sich vor allem mit dem sogenannten Feminizid – können Sie uns kurz erklären, was man darunter versteht? Die juristische Figur des Feminizids bezeichnet Gewalt gegen Frauen in ihrer extremsten Form. ­Feminizid ist gekennzeichnet durch soziale Straflosigkeit, der Hintergrund davon ist Misogynie, also der Hass auf Frauen. Die Betroffenen werden dabei durch den Staat, der die Gewaltakte gegenüber Frauen und Mädchen ungestraft lässt, einfach unsichtbar gemacht. Grundmuster des Feminizids sind Folter, physische und psychische Gewalt und in letzter Folge Mord. Das sind also die zwei Komponenten, auf der einen Seite die extreme Gewalt gegen Frauen und auf der anderen Seite die Straflosigkeit, die vom Staat ausgeht, der den Betroffenen und ihren Angehörigen Gerechtigkeit versagt. Wenn wir in Europa von Feminizid hören, dann geht es meistens um Ciudad Juárez an der Nordgrenze Mexikos zu den USA. Die feministische Bewegung in Mexiko benutzt Ciudad Juárez und den Bundesstaat Chihuahua als Symbol für den Feminizid. Dort hat man 1993 noch vor anderen Bundesstaaten begonnen, Gewalt gegen Frauen, das Verschwindenlassen von Frauen und Frauenmorde systematisch zu dokumentieren. Grund dafür war die extreme Situation in Ciudad Juárez. 1993 begannen dort Frauen zu verschwinden. Das waren in erster Linie Frauen aus der Arbeiterklasse, junge Frauen, Frauen mit einem niedrigen sozialen Status. Ciudad Juárez ist eine Grenzstadt mit einem großen Anteil an mexikanischen Arbeitsmigrantinnen. Für die Familien, die in einem anderen Bundesstaat leben, ist es dann nicht möglich, sich um die Fälle ihrer verschwundenen oder ermordeten Töchter selbst zu kümmern. Die wenigen Familien, die das Verschwinden oder den Mord an ihren Töchtern zur Anzeige gebracht haben, wurden mit totaler Straflosigkeit konfrontiert, damit, dass es keine polizeiliche Untersuchung der Fälle gibt und der Staat schlicht die Gesetze nicht anwendet. Nachdem die Mordserie in Ciudad Juárez große Resonanz hervorgerufen hatte, wurden die Stadt und der Bundesstaat Chihuahua von fast allen Uno-Berichterstattern aus den Bereichen Menschenrechte oder Frauenrechte besucht. Von da an begann eine Diskussion über generelle und strukturelle Gewalt gegen Frauen in ganz Mexiko. Hat sich daraus etwas Konkretes ergeben? Resultat der Diskussion war, dass das landesweite Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen in Kraft trat und weitere Gesetze auf der Ebene der Bundesstaaten initiiert wurden. Auch wurde eine Reihe verschiedener Institutionen gegründet, die garantieren sollten, dass die Angehörigen der ermordeten Frauen landesweit Zugang zu Justiz und Gerechtigkeit bekommen. Darüber hinaus begannen Organisationen, auch in anderen Bundesstaaten Gewalt gegen Frauen zu analysieren. Sie untersuchten, inwiefern die juristische Figur des Feminizids auch in anderen Teilen Mexikos Anwendung finden konnte. Gewalt gegen Frauen wurde zuvor wie ein Verbrechen wie jedes andere behandelt. In einem patriarchalen und machis­tischen Staat wie Mexiko wurde die Kategorie »geschlechtsspezifische Gewalt« einfach niemals mit in die Analyse einbezogen. Wie ist denn die Situation in anderen Bundesstaaten? Im Zuge dieses Prozesses ist eine für uns sehr wichtige Organisation entstanden, das »Observatorio Ciudadano Nacional de Feminicidio«, welche ganz konkret an der Dokumentation von Fällen des Feminizids in den verschiedenen Bundesstaaten gearbeitet hat. 2008 wurde dargelegt, dass der Bundesstaat Mexiko die meisten Fälle von Feminizid aufzuweisen hatte, gefolgt von Sinaloa und von Jalisco. Das heißt, wir haben eine Situation, die sich in allen Bundestaaten wiederholt und zum Alltag gehört. Auch in Oaxaca und Chiapas ereignet sich eine große Anzahl an Feminiziden. Guerrero ist ebenfalls ein stark betroffener Staat, in dem unsere Organisation »ProDESC« seit 2007 zusammen mit dem »Red Guerrerense für ein Leben ohne Gewalt« an einer Kampagne gearbeitet hat. In dieser Kampagne wurden über drei Jahre lang nicht nur Fälle von Frauenmorden, sondern eben auch soziale Muster von Gewalt gegen Frauen aufgezeichnet, zum Beispiel sexuelle Gewalt, fehlende Mobilität, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung und Gesundheitsversorgung etc. Dabei wurde auch deutlich, dass all dies seitens der staatlichen Institutionen und anderer Organisationen eben nicht sichtbar, sondern unsichtbar gemacht wird. Das Phänomen selbst ist aber lange bekannt, oder? Das Phänomen ist nicht neu, das Neue an der Verwendung des juristischen Begriffs des Feminizids ist die Möglichkeit, sich die Tatsachen aus einer anderen Perspektive anzuschauen und Gewalt gegen Frauen auch aus dieser Position heraus besser zu fassen. Das ist eine grundsätzliche Veränderung für die Frauen und die feminis­tische Bewegung in Mexiko. Dank der Frauenbewegung und feministischer Gruppen gibt es Fortschritte. Aber gleichzeitig ist eine extreme Zunahme von Gewalt zu verzeichnen, die sich insbesondere gegen Frauen richtet. Bislang konnten die Geschlechterperspektive und die Misogynie, die in der mexikanischen Gesellschaft und in den staatlichen Institutionen weit verbreitet ist, nicht thematisiert werden, da es dafür keine gesetzliche Grundlage gab. Natürlich gibt es Abkommen und internationale Ins­trumente, die sich auf Gewalt gegen Frauen beziehen, zum Beispiel die Konvention von Belém do Pará. Aber diese Abkommen konnten in Me­xiko lediglich auf Menschenrechtsverletzungen im allgemeinen Sinne angewandt werden, hatten aber keine Geschlechterperspektive. Das neue Gesetz garantiert uns zwar keine Gerechtigkeit, aber zumindest ist die Figur des Feminizids ein Werkzeug, das uns die politische und juristische Arbeit erleichtert und es erlaubt, Gewalt auch als solche zu bezeichnen. Voriges Jahr kam erstmals ein Fall von Feminizid in Ciudad Juárez vor den interamerkanischen Menschenrechtsgerichtshof. Im sogenannten Fall Campo Algondero wurde der mexikanische Staat wegen der Morde an drei Frauen und des geschlechtsspezifischen Charakters dieser Gewaltverbrechen verurteilt. Durch das Urteil im Falle des Campo Algodonero hat der mexikanische Staat klar gezeigt bekommen, dass es seine Pflicht ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und dem Feminizid Einhalt zu gebieten. Zum ersten Mal konnten Fälle von Feminizid vor den interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht werden. Aber noch wichtiger ist, dass die gegen den mexikanischen Staat erhobene Klage erfolgreich war. Der Gerichtshof hat Mexiko wegen der Duldung von geschlechtsspezifischen Gewaltverbrechen verurteilt und den Staat dazu verpflichtet, entsprechende Entschädigungsleistungen zu zahlen sowie neue Gesetze und effektivere, umfassendere Untersuchungsmechanismen zu schaffen. Ohne Zweifel ist das ein wichtiger Fortschritt, aber das ist nicht alles. Als Juristin sehe ich das Gesetz als ein Instrument, aber das Problem kann nicht das Justizsystem lösen, die Lösung liegt in der kollek­tiven Organisation und im Potential der sozialen Bewegungen, die strukturelle Veränderungen einfordern. Ist Mexiko das machistischste Land der Welt? Ich glaube, es zeigt sich ganz klar, dass Frauen in allen Ländern von Gewalt betroffen sind. Aber weil es in Mexiko juristische und institutionelle Fortschritte gibt, wird hier sichtbar, dass Gewalt gegen Frauen existiert. Man kann also nicht sagen, dass Feminizid ein mexikanisches Phänomen ist? Natürlich nicht. Man neigt dazu anzunehmen, dass Feminizid ein lateinamerikanisches Phänomen ist, weil es hier um offen paternalistische und patriarchale Gesellschaften geht. Wenn man aber genau hinsieht, erkennt man solche Strukturen auch in Europa. Zum Beispiel passiert gerade etwas Vergleichbares in Spanien. Dort gibt es mittlerweile auch deutliche Impulse für ein Gesetz, das es ermöglichen soll, die existierende Gewalt gegen Frauen als Feminizid zu bezeichnen. Aber es ist klar, dass in Spanien noch einmal andere Kategorien geschaffen werden müssen. Wo sehen Sie die Bewegung in fünf Jahren? Das ist die große Frage! Ich glaube, dass es in den nächsten fünf Jahren Fortschritte geben wird, vielleicht nicht in Hinblick auf Gerechtigkeit und die Entschädigung der Betroffenen, aber doch in Bezug auf ein erweitertes Bewusstsein in der mexikanischen Gesellschaft, ein Bewusstsein dafür, was Feminizid bedeutet. Außerdem braucht es eine Stärkung und Professionalisierung der mexikanischen Zivilgesellschaft. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Feminizid weiterhin dokumentiert werden kann und dass wir aus einer machtvolleren Position Gerechtigkeit fordern können.