Der Vatikan und die Missbrauchsvorwürfe

Die rechte und die linke Hand des Teufels

Im Umgang mit den Vergewaltigungsvorwürfen hat die katholische Kirche keine Fehler gemacht, sondern ihre Doktrin konsequent angewendet, um verdächtige Geistliche zu schützen.

Sollte es einmal darauf ankommen, hat Tarcisio Bertone einen schnellen Fluchtwagen. Er besitzt einen Ferrari. Unauffällig ist das Gefährt zwar nicht, doch wenn Bertone seine Berufskleidung trägt, dürfte er im Wageninneren kaum zu erkennnen sein. Denn Auto wie Fahrer leuchten in Kardinalsrot.
Bertone ist Kardinalstaatssekretär und somit der zweitmächtigste Mann in der katholischen Hierarchie. Bemerkenswert offen berichtet die Katholische Nachrichtenagentur, Bertone habe »alle Leitungspositionen im Staatssekretariat und viele Schlüsselstellungen im Vatikan« neu besetzt, wobei »mitunter Vertrauensleute des Kardinals« bevorzugt wurden. Er leitet auch die Kardinalskommission für die Bank des Vatikans.
Diese Machtfülle verdankt Bertone seinen engen Beziehungen zu Joseph Ratzinger, der bis zu seiner Ernennung zum Papst im Jahr 2005 die Kongregation für die Glaubenslehre leitete. Sein Sekretär, engster Mitarbeiter und Troubleshooter war Bertone, der die gleichen Aufgaben seit 2006 für den nunmehr Benedikt XVI. genannten Ratzinger erledigt. Die beiden ergänzen sich. Während Ratzinger den milden und altersweisen Intellektuellen gibt, repräsentiert Bertone die volkstümliche Seite der Kirche, er ist Fußballfan und schaut auch mal in einer Diskothek vorbei. Doch beide sind gleichermaßen reaktionär.

Deshalb glauben sie, dass die Kirche zwar einen gottgegebenen Anspruch auf die Unterstützung des Staats hat, diesem aber keine Rechenschaft schuldet, auch wenn es um die Vergewaltigung von Kindern und Jugendlichen geht. Ein von Ratzinger und Bertone unterzeichneter vertraulicher Brief an alle Bischöfe erteilt die Anweisung, alle Verdachtsfälle der Glaubenskongregation zu melden, sie ansonsten aber als »päpstliches Geheimnis« zu behandeln. Dies entspricht der Stufe »top secret« in der Welt der Geheimdienste. Erst zehn Jahre nach der Volljährigkeit des Opfers erlischt die Geheimhaltungspflicht. Zuvor sollen ausschließlich Geistliche über solche Fälle urteilen.
Der 2001 versandte Brief wurde vier Jahre später in einem Vergewaltigungsprozess von dem US-Anwalt Daniel Shea vorgelegt, der von einer »internationalen Verschwörung zur Behinderung der Justiz« sprach. Der Vatikan verweigerte eine Stellungnahme, bestritt die Echtheit des Briefs jedoch nicht. Der »Beschuldigte Joseph Ratzinger« wurde von Richter Lee Rosenthal ultimativ zu einer Stellungnahme aufgefordert, war aber nunmehr Papst geworden und genoss als Staatschef des Vatikans Immunität. Die päpstliche Nuntiatur in Washington war dennoch so besorgt, dasssie das Außenministerium zu einer expliziten Weisung drängte, die Rosenthal auch erhielt.
Der Brief an die Bischöfe, in dem es auch um liturgische und andere eher banale Vergehen geht, erlaubt einen Einblick in die Gedankenwelt Ratzingers und Bertones. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Vergewaltigung eines Kindes und der Feier des Abendmahls mit einem Protestanten sehen sie nicht, in mittelalterlicher Tradition betrachten sie alle von Klerikern begangenen »Sünden« als kirchliche Angelegenheit.
Auch andere Männerbünde begünstigen sexuelle Gewalt. Doch im Gegensatz etwa zu einem Trainer wähnt sich ein Mann, der die Priesterweihe empfangen hat, als Teilhaber am Gnadenschatz der Kirche, die ihn in der Ansicht bestätigt, dass er nur seinen Vorgesetzten Rechenschaft schuldet. Keine andere Institution hat so systematisch die Ermittlungen behindert. Das ist weder ein Fehler noch ein Versäumnis, sondern die konsequente Anwendung einer Lehre, die noch zahlreiche vorbürgerliche Dogmen enthält.

Die Anweisungen an die Bischöfe belegen aber auch den Machtanspruch Ratzingers und Bertones. Die beiden wollten alles wissen und alles kontrollieren, man muss davon ausgehen, dass sie von den Bischöfen über zahlreiche weitere, der Öffentlichkeit noch nicht bekannte Fälle informiert worden sind. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Geheimhaltung der Vergewaltigungsvorwürfe sind nunmehr die beiden mächtigsten Männer der katholischen Kirche, und in der letzten absolutistischen Monarchie Europas kann sie niemand daran hindern, ihre Getreuen und Günstlinge in hohe Positionen zu hieven. Ausgerechnet von ihnen eine Lösung zu erwarten, ist bestenfalls naiv.
Dennoch wird Bertone wohl keinen Fluchtwagen brauchen. Denn während sich in einer Umfrage etwa 80 Prozent der Amerikaner für eine Strafverfolgung von Geistlichen aussprachen, die Vergewaltiger schützen, und die Behörden in solchen Fällen ermitteln, wartet man im vermeintlich säkularen Europa geduldig auf ein klärendes Wort des Papstes. Gewählte Politiker erweisen der Kirche weit mehr Respekt als katholische Monarchen und Stadtbürger früherer Zeiten, die sich nicht scheuten, besonders lästig gewordene Geistliche einzukerkern oder auch zu erschlagen. So weit muss man nicht gehen, doch nur wenn die Kirche fürchten muss, ihre Privilegien zu verlieren, wird sie sich zu Reformen bequemen. Auch säkulare Politiker wagen es nicht, diese Privilegien anzutasten. Doch ist das Risiko ist wahrscheinlich geringer, als viele glauben, denn schließlich ist der Antiklerikalismus eine ehrenwerte Tradition auch unter Katholiken.