Pinar Selek im Gespräch über die Konstruktion von Männlichkeit im türkischen Militär

»Das ist ein Komplott«

Die türkische Soziologin Pinar Selek hat in ihrem Buch »Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt« anhand von Interviews untersucht, wie die türkische Armee die männliche Sozialisation prägt. Ihre soziologischen Recherchen und ihr feministisches und antimilitaristisches Engagenment haben die Autorin bereits in große Gefahr gebracht. Sie erhielt zahlreiche Drohungen türkischer Faschisten, und der oberste Gerichtshof der Türkei beschuldigt sie, einen Terroranschlag verübt zu haben.

Der oberste Gerichtshof der Türkei will, dass Sie den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen. Warum?
Ich weiß es nicht! (lacht) Ich verstehe einfach nicht, warum sie so starrköpfig sind. Sie haben ein Komplott gegen mich geschmiedet, sie behaupten, ich hätte einen Anschlag verübt. Ich wurde vor vielen Jahren wegen meiner soziologischen Recherchen verhört, und als sie mir nichts Strafbares vorwerfen konnten, haben sie irgendwann jemanden gefunden, der ausgesagt hat, wir hätten gemeinsam eine Bombe auf dem Istanbuler Gewürzbasar gelegt. Vor Gericht hat derjenige seine Aussage zurückgezogen und gesagt, dass ihm das Geständnis unter Folter abgepresst worden sei. Er wurde freigelassen, aber seine durch Folter erpresste Aussage, ich sei an der angeblichen Tat beteiligt gewesen, wurde weiterhin gegen mich verwendet.
Und warum hat man dieses Komplott gegen Sie geschmiedet?
In der Türkei wird viel über meinen Fall und diese Frage diskutiert. Die liberaleren Türken und die Linken sind ja auf meiner Seite, viele wissen, dass ich Opfer der Justizwillkür hin. Ich bin keine Kurdin, ich komme aus einem intellektuellen und politisch aktiven Milieu, ich habe sehr viele verschiedene Sachen gemacht, und man kennt mich deshalb sehr gut in der Türkei. Ich habe über die PKK recherchiert. Man hat mich deshalb verhört und wollte, dass ich Namen ausplaudere, ich wurde gefoltert. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich der Folter widerstanden habe. Vielleicht, weil ich ich als Soziologin immer auf Seiten der Ausgeschlossenen und Unterdrückten stand und konkrete Recherchen über Delinquenten, Sexarbeiterinnen etc. gemacht habe. Hätte ich der Polizei Namen genannt, hätte ich es vergessen können, auf diese Art weiterzuarbeiten.
Nachdem ich einen Monat im Gefängnis saß, hieß es dann, ich hätte der PKK geholfen. Ich habe dann in den Fernsehnachrichten gesehen, dass ich eine Bombe auf dem Markt in Istanbul gelegt haben soll. Natürlich konnten sie das nicht belegen, später hieß es, bei der angeblichen Bombe auf dem Markplatz habe es sich in Wirklichkeit um eine explodierte Gasflasche gehandelt. Nach zweieinhalb Jahren kam ich aus dem Gefängnis. Wenn ich danach stillgehalten hätte, hätte die Sache vielleicht damit ihr Bewenden gehabt, aber ich habe mich weiterhin als Antimilitaristin und Feministin engagiert. Wahrscheinlich hat man mich ausgewählt, um an mir ein Exempel zu statuieren. Sie dachten, wenn sie mich bestrafen, werden auch alle anderen Angst bekommen.
Sie haben sich für Frauenrechte und die Rechte sexueller Minderheiten eingesetzt – warum hat das die türkische Justiz provoziert?
Das ist eine schwierige Frage. Ich habe eben nicht nur Texte verfasst, sondern war auch politisch aktiv, irgendwie dachten sie, ich sei gefährlich für sie. Vielleicht auch, weil ich eine Frau bin, weil ich radikal bin und mich ihrer Macht nicht gebeugt habe. Militarismus und patriarchale Männlichkeit sind sehr eng verwandt, und gegen beides kämpfe ich. Ich glaube, das ist die Kombination, vor der sie Angst haben.
Als Sie anfingen, sich für Ihr Buch »Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt« mit der Kons­truktion von Männlichkeit in der türkischen Armee zu beschäftigen, wussten Sie also schon, dass das ein gefährliches Forschungsfeld ist.
Ich machte das nicht, weil ich mich gern in Gefahr begebe. Natürlich habe ich Angst, große Angst, aber ich kann mit ihr leben. In der Türkei behaupten manche gern, ich sei furchtlos, aber das stimmt nicht. Ich komme aus einer Familie, die im Kampf für die Demokratie sehr aktiv war, in meiner Kindheit war ich schon Zeuge der Gewalt der Armee. Seit damals wollte ich die Armee und den Militarismus verstehen. Als Hrant Dink, der ein Freund von mir war und ein Symbol für die Demokratiebewegung, erschossen wurde, sah ich seinen Mörder im Fernsehen, wie er sagte: »Pass bloß auf und sei ja vernünftig!« Als ich das gesehen habe, habe ich beschlossen zu untersuchen, wie aus einem Baby ein solcher gewalttätiger Mann wird. Und dabei geht es um beides: um die Sozialisation zum Mann und um Militarismus.
In der Sache des angeblichen Bombenanschlags wurden Sie zunächst einmal freigesprochen. Dass die Justiz Ihren Fall dann vor zwei Jahren wieder aufgerollt hat, hing das mit Ihrem Buch zusammen?
Ja, manche sagen das. Diese Entscheidung fiel, nachdem mein Buch erschienen war. Sie wollten mich aber offenbar nicht für das Buch bestrafen, sie haben mich auch nicht für mein vorher erschienenes Buch über die Geschichte des türkischen Militarismus bestraft. Das wäre möglich gewesen, weil es in der Türkei ein Gesetz gibt, das Kritik an der Armee verbietet. Sie fürchteten vielleicht, dass mein Buch und ich dann dann nur bekannter würden. Also war es für sie wohl praktikabler, mich als Terroristin zu verfolgen.
Ihr Buch dreht sich um Männlichkeitsnormen in der türkischen Armee. Ich habe den Eindruck, dass man im Rahmen der Gender Studies meist mehr die Sozialisation zur Frau oder die Konstruktion von Weiblichkeitsnormen untersucht hat und weniger die der Männlichkeit. Vielleicht, weil die Analyse der Konstruktion von Männlichkeit die Männer plötzlich als Opfer erscheinen lässt? Hängt das damit zusammen?
Ja. Aber ich glaube, dass das für den modernen Feminismus kein Problem mehr ist. Klar, früher ging es darum, eine eigene Identität aufzubauen – in der Geschichtsschreibung war ja kein Platz für die Erfahrungen von Frauen, also hat man sich darauf konzentriert. Aber es gab schon vereinzelt Kritik an meinem Buch, dass es die Gewalt der Männer legitimiere. Aber ich glaube, dass man sich mit Dingen, die man bekämpft, auseinandersetzen muss. Wenn man diese Mechanismen der Gewalt kennt, ist man stärker. Um den Code des Patriarchats zu verstehen, muss man diese Dinge studieren. Es bringt ja nichts, einfach die Männer zu verurteilen.
In Ihrem Buch gehen Sie etwa auf das Beschneidungsritual, Hochzeitsrituale und die Diszi­plinierung der Männer im türkischen Militär ein, um die Konstruktion der Männlichkeit zu analysieren. Wenn man selber als Mann weder beschnitten wurde noch verheiratet ist und auch nicht bei der Armee gedrillt wurde, kommt einem das reichlich fremd vor. Würde das heißen, dass es hier in Deutschland in manchen Milieus »Männlichkeit« und »Patriarchat« gar nicht mehr gibt?
Wie die Bedingungen hier sind, müssen die deutschen Männer und Frauen untersuchen. Im Vorwort der deutschen Ausgabe habe ich geschrieben, dass die Erfahrungen anderer auch wie ein Spiegel sein können, wenn man sie genau genug betrachtet. Man kann sich beim Lesen ja die Frage stellen, wie diese Mechanismen der Konstruktion von Männlichkeit hier ablaufen. Ich glaube, dass das Patriarchat überall ist, auch wenn man nicht übersehen darf, dass die Frauenbewegung schon viel verändert hat. Aber wenn man sich Ber­lusconi, Sarkozy oder auch Merkel ansieht, weiß man, dass die Konservativen in Europa noch sehr stark sind. Vielleicht haben sich die Methoden verändert, vielleicht ist es hier weniger die Fähigkeit zur körperlichen Gewalt, die Männlichkeit ausmacht, sondern vielleicht, dass man einen Job hat, dass man gebildet ist, dass man etwa irgendeinen Titel hat.
Sie schreiben, dass das, was als männlich gilt, sich stets verändert. Haben sich die Männlichkeitsvorstellungen nicht auch in der Türkei bereits weiterentwickelt?
Ja, das verändert sich, es gibt verschiedenste Typen der Inszenierung von Männlichkeit, etwa die Metrosexuellen und so weiter, es gibt heute ein breiteres Repertoire an Männlichkeitsnormen.
In Ihrem Buch kommt Religion kaum vor. Spielt sie denn bei der Konstruktion der traditionellen Männlichkeit keine Rolle?
Doch, aber ich kann nicht alle Erfahrungen von Männlichkeit in der Türkei untersuchen, ich habe mich auf die Rolle des Militärs konzentriert, die Religion wird dabei an einigen Stellen erwähnt. Aber wenn ich die Gelegenheit hätte, über Religion in diesem Zusammenhang zu sprechen, würde ich es tun.
Sie erhalten viel Unterstützung und Solidaritätsbekundungen – etwa vom Pen-Club, von vielen Organisationen und auch von vielen Prominenten – aber hilft Ihnen das denn?
Ja, sehr, in erster Linie hilft das mir psychologisch. Auch die vielen Unterschriften auf der Internet-Petition des Pen Clubs auf der Seite www.ps-sign­up.de helfen mir. In der Türkei hat man mich angesichts der vielen Drohungen, die ich von vielen Seiten erhalten habe, immer gefragt, wie ich das aushalte. Die Hürriyet hat etwa einmal ein Foto von mir auf einer Demonstration gedruckt und daneben eines von Öcalan, es hieß, Öcalan liebe mich, ich wurde dort gleichsam als Wunschbraut Öcalans präsentiert. Es hieß dort, ich hätte ihn auf der Gefängnisinsel, auf der er inhaftiert ist, getroffen! Niemand kann auf diese Insel, das ist absoluter Quatsch! Sie haben das dann auch dementiert, aber es geht einfach darum, mich zu terrorisieren. Ich habe daraufhin viele Drohungen von türkischen Faschisten erhalten. Nur wegen der großen Solidarität konnte ich das ausgehalten, dank der Solidarität habe ich mich noch nicht mal im Gefängnis einsam gefühlt. Auch hier erlebe ich diese Solidarität von vielen Seiten. Wenn mir das gegen die Anschuldigungen der türkischen Justiz nicht helfen sollte, gibt es mir Kraft.
Was machen Sie jetzt? Sie können ja nicht zurück in die Türkei.
Ich werde von hier aus weiterhin die feministische Zeitschrift Amargi herausgeben, ich arbeite an meiner Dissertation an der Universität Strasbourg, und ich kann hier im Haus des Pen-Clubs in Berlin wohnen und an meinem neuen Roman arbeiten. Ich werde also weiterhin an der Verwirklichung meiner Träume arbeiten.
Werden Sie langfristig hier bleiben?
Ich will hier bleiben, und da ich in Frankreich studiere und vom Pen-Club eingeladen bin, ist mir das vorerst möglich. Aber ich bin mir sicher, dass ich eines Tages in die Türkei zurückkehren kann.

Pinar Selek: »Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten«. Aus dem Türkischen von Constanze Letsch. Orlanda-Verlag Berlin, 2010.