»Die Hölle«, ein Fragment gebliebenes Meisterwerk mit Romy Schneider

Blick in die Hölle

1964 begann Regisseur Henri-Georges Clouzot mit seinem ambitionierten Projekt, doch nach drei Wochen wurden die Dreharbeiten zum Film »Die Hölle« abgebrochen. Das Filmmaterial verschwand für Jahrzehnte im Archiv, bis Serge Bromberg 2005 die Filmbüchsen erstmals öffnen durfte. In seiner Dokumentation erzählt er vom Making-Of des unvollendeten Meisterwerks mit der damals 24jäh­rigen Romy Schneider.

Warum bestimmte Filme, die unter haarsträubend widrigen Bedingungen gedreht wurden, geglückt, andere jedoch gescheitert sind, lässt sich oft nicht genau sagen. Gelingen oder Scheitern hängen manchmal nur von einer Kette von Zufällen ab. Wenn man sich die Dokumentation über die wahnwitzigen Dreharbeiten zu Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now« oder auch den Film von Les Blank über die Entstehungsgeschichte von Werner Herzogs »Fitzcarraldo« ansieht, erscheint es fast wie ein Wunder, dass diese Filmprojekte fertiggestellt werden konnten. Die Filmgeschichte könnte heute auch anders aussehen.
»Die Hölle« (»L’enfer«, 1964) von Henri-Georges Clouzot gehört dagegen zu jenen mythenumwobenen Filmprojekten, die nie vollendet wurden. Clouzot erlitt in der dritten Woche der Dreharbeiten einen Herzinfarkt. Er überlebte zwar und drehte vier Jahre später noch einen letzten Film, doch »Die Hölle« ließ er ruhen. Seither war das Projekt von Gerüchten und Anek­doten begleitet und bildete eine mysteriöse Lücke in der Biografie des für seinen Perfektionismus berüchtigten Regisseurs. Während die Imagination durch das Fehlen von Bildern erst recht befeuert wurde, lagen 185 Filmrollen, insgesamt 13 Filmstunden, ohne Ton, Jahre lang in einem französischen Filmarchiv. Die beiden Filmhistoriker Serge Bromberg und Ruxandra Medrea erfuhren von der Existenz der Aufnahmen und erhielten von Clouzots Witwe Inès schließlich die Erlaubnis, die bisher unveröffentlichten Szenen für die Öffentlichkeit freizugeben. Auch die Versicherung, die das Material nach Abbruch der Dreharbeiten beschlagnahmt hatte, willigte ein.
»Die Hölle von Henri-Georges Clouzot« (2009) – der Titel spielt auf die Ununterscheidbarkeit von filmischer Wirklichkeit und Realität der Dreharbeiten an – ist eine sensationelle filmhistorische Ausgrabung und dokumentiert das Making-Of eines auf abstruse Weise entgleisten Projekts. Die Produktionsgeschichte des Films wird durch Interviews mit ehemaligen Zeitzeugen erzählt, zudem gibt es – recht prätentiös inszenierte – Einschübe, in denen ein Schauspielerpaar die fehlenden Szenen der Filmhandlung nachspielt. Über diesen etwas misslungenen Einfall sollte man aber großzügig hinwegsehen. »Die Hölle von Henri-Georges Clouzot« ist vor allem als Meta-Film oder »Film im Film« aufregend, denn aus den Fragmenten ergibt sich ein völlig eigenständiges, wenn auch brüchiges Werk. Auch die Probeaufnahmen und Kostümproben sind eine Entdeckung. Romy Schneider und Serge Reggiani wirken unbefangen und voller Energie, völlig ahnungslos, dass die Arbeit mit Clouzot in einer Katastrophe enden würde. Während die 25jährige Romy Schneider in »Die Hölle« als sinnliche, verführerische Ikone erscheint und rein gar nichts mehr an ihr einstiges Sissi-Image erinnert, ist ihr Auftritt bei den Screen Tests unverstellt jungmädchenhaft, frech und fast ein bisschen drollig. Die angehende »französische« Actrice, die Clouzot als jemanden beschreibt, den sie »schon immer sehr bewundert und auch ein bisschen gefürchtet« habe, vertraute sich ihrem Regisseur geradezu blind an, obwohl er unter Schauspielern den Ruf eines Folterknechts genoss.
»Die Hölle« erzählt von der pathologischen Eifersucht eines Mannes, die immer paranoidere Züge annimmt. Am Ende haben seine Wahnvorstellungen die Wirklichkeit vollständig getilgt. Clouzot hatte das Drehbuch selbst geschrieben, die Alltagswelt sollte in Schwarz-Weiß-Bildern, die Visionen der Figuren in Farbe dargestellt werden. Erste Bilder zeigen ein glückliches Paar, gespielt von Romy Schneider und Serge Reggiani. Den beiden gehört ein kleines Hotel an einem See, die Kulisse ist malerisch, erste Anzeichen einer Bedrohung kündigen sich an. Der Blick des Mannes, Marcel, auf seine Frau Odette wirkt zunehmend surreal. Er meint in ihrem ungezwungenen Umgang mit den Hotelgästen ein aufreizendes Spiel sexueller Gesten zu erkennen. Seine Wahrnehmung verformt sich buchstäblich: Das Bild wird verzerrt, Augen, Münder und Brüste vervielfältigen sich, seine Orientierung geht immer weiter verloren. Daneben gibt es bizarre Bilder voll faszinierender Farb- und Lichtstimmungen. Eine in grünes und blaues Licht getauchte Romy Schneider, die genüsslich und sehr lasziv raucht, ihr Blick intensiv, geradezu hypnotisch. Romy beim Wasserskifahren, der See ist blutrot gefärbt, Romy mit blau geschminkten Lippen auf einem Boot, leidenschaftlich zugange mit einem muskulösen Mann, später in einer lesbischen Verführungsszene, Romys funkelndes, mit Pailletten bestäubtes Gesicht, umkreist von Lichtspielen. Die Bilder sind hypnotisch – auch wenn oder gerade weil sie auf eine ziemlich hemmungslose Art Romy-Schneider-Exploitation betreiben. Trotz ihrer zeittypischen Stilmittel erscheinen sie neu und unverbraucht, aber natürlich beruht ihre Wirkung auch auf dem Wissen, dass es sich um Elemente eines ambitionierten, aber gescheiterten Kunstwerks handelt. Sie versprechen, mehr zu sein als bloße Filmreste, nämlich Fragmente eines potentiellen »Meisterwerks«. Nichts weniger hatte sich Clouzot jedenfalls vorgenommen.
Clouzot wollte eine neue visuelle Sprache entwickeln, Erfahrungen der bildenden Kunst in Film übersetzen. Das neue Werk sollte das Kino erneuern und seinem Regisseur die höchste Anerkennung verschaffen. Anfang der sechziger Jahre genoss er keineswegs uneingeschränkte Wertschätzung (übrigens scheint sich das seitdem nicht geändert zu haben; jedenfalls existiert bisher keine einzige deutschsprachige Publikation über ihn). »Der französische Hitchcock«, wie er genannt wurde, galt zwar seit Filmen wie »Unter falschem Verdacht« (»Quai des Orfèvres«,1947), dem existentialistischen Thriller »Lohn der Angst« (»Le Salaire de la Peur«, 1953) und dem Ehepsychodrama »Die Teuflischen« (»Les Diaboliques«,1954) als Meister des abgründigen Psychodramas und hatte mit dem dokumentarischen Essay »Le Mystère Picasso« (1957) bewiesen, dass er auch experimentellere Erzählformen beherrschte. Doch als sein Film »Die Wahrheit (»La vérité«) 1960 in die Kinos kam, war er der Zeitschrift Cahiers du Cinéma ganze fünf Zeilen wert. Das französische Kino stand ganz unter dem Eindruck der Nouvelle Vague, deren Angriffe auf das heftig bekämpfte »cinéma de qualité« auch Clouzots Arbeiten einschlossen. Seine Filme galten als seelenlos, manieriert und geschwätzig, außerdem warf man ihm vor, er plane alles peinlich genau und lasse keinen Platz für Improvisationen. Mit dem spontanen Aktivismus der Nouvelle Vague konnte Clouzot tatsächlich nicht viel anfangen. »Ich improvisiere auf dem Papier«, hatte er dazu bemerkt. Er verstand sich in erster Linie als gewissenhafter Arbeiter.
Bevor die erste Szene für »Die Hölle« gedreht wurde, sprach die Presse bereits von dem Kinoereignis des Jahres. Die Produktion fand unter größter Geheimhaltung statt und wirkte für französische Maßstäbe reichlich überdreht. Es wurde Hollywood gespielt. Clouzot hatte von der Columbia, die als Co-Produzent fungierte, ein unbegrenztes Budget erhalten. Geradezu manisch arbeitete er daran, die paranoiden Visionen des eifersüchtigen Ehemannes darzustellen. So engagierte er Eric Duvivier als Berater, der in seinem Film »Image du monde« versucht hatte, Henri Micheaux’ Halluzinationen unter Meskalin filmisch Ausdruck zu verleihen. Duvivier hatte die Linien der Zeichnungen mit silbernen Pailletten bestreut und mit einem speziellen Lichtsystem gearbeitet, das ähnliche Effekte erzeugte wie das irisierende Leuchten von Schmetterlingsflügeln, je nach Position des Lichts. In »Die Hölle« gibt es zahlreiche Szenen, die sich dieses Verfahren zunutze machen. Den größten Einfluss auf die Albtraumszenarien hatten jedoch die Werke der kinetischen Kunst. Ähnlich wie Alfred Hitchcock in »Ich kämpfe um dich« die surrealistischen Visionen Salvador Dalís in seinen Film integriert hatte, suchte Clouzot die kinetische Kunst und ihr Prinzip der Wahrnehmungsveränderung in eine Filmsprache zu übersetzen. Pierre Lubtchansky, der bei »Die Hölle« Kameraassistent war, äußert sich ziemlich amüsiert über Clouzots Obsession, kinetische Objekte – etwa ein Werk mit rotierenden und sich auf den Betrachter zubewegenden Dreiecken – filmisch zu sexualisieren. »Ich war zum Experten geworden, wenn es um den optischen Koitus geht«, sagt Lubtchansky und spielt damit auf den exzessiven Gebrauch der Zoomfunktion – das immer schnellere Rein- und Rauszoomen – an. Clouzot verbrachte Monate mit den Aufnahmen experimenteller Farb- und Lichteffekte. Schatten, Kreise, Gitter, Lichter und Farben gleiten über Gesichter und Körper. Gliedmaßen werden gespiegelt, verformt und verdoppelt. Mal sind die Darsteller in Zellophanfolie verpackt, mal mit Pailletten bestreut, oder sie tragen blauen Lippenstift und ein mehrfarbiges Makeup. Es ist eine bizarre Mischung aus Surrealismus, Op Art und Pop Art, mitunter erinnern die ikonischen Bilder von Romy Schneider an Andy Warhols Star-Porträts.
Die eigentlichen Dreharbeiten fanden im Sommer in der Auvergne statt. Es gab zwar keine aufwändigen Aufbauten, kein Heer von Komparsen, doch Clouzot ging umso verschwenderischer mit den Kräften und der Zeit seiner Mitarbeiter um. Allein vier Tage benötigte er für die Sequenzen, in denen Romy Schneider Wasserski fährt, obwohl er sich keine Abweichung vom Drehplan erlauben durfte – der künstliche See sollte in Kürze trocken gelegt werden. Clouzot verlor sich so sehr in Details, dass zwei von drei zur Verfügung stehenden Drehteams die meiste Zeit untätig herumsitzen mussten. Bernard Stora, der für Clouzot als zweiter Regieassistent tätig war, erinnert sich an eine »bizarre Mischung aus traditionellem Film, den besten Kameramännern der damaligen Zeit und den erfahrensten Technikern«, die alle damit beschäftigt waren, die seltsamsten Dinge zu tun. »Mir war klar, dass sie keine ­Ahnung hatten, was sie da eigentlich taten.« Zwischen Serge Reggiani und dem Regisseur herrschte eine fast unerträgliche Anspannung, der Schauspieler musste tagelang hinter einem Kamerawagen herrennen, bis er völlig erschöpft war. Nach zehn Drehtagen stieg Reggiani aus dem Projekt aus, die offizielle Erklärung lautete »Malta-Fieber«. Der als Ersatz gehandelte Jean-Louis Trintignant reiste ab, ohne eine einzige Szene gedreht zu haben. Clouzot machte einen immer hilfloseren und orientierungslosen Eindruck. »Die Hölle« war für ihn selbst zu einer Art Hölle geworden.
1968 drehte der Regisseur seinen letzten Film, »Seine Gefangene« (»La prisonnière«), eine Geschichte über Voyeurismus, Abhängigkeit und Unterwerfung. Clouzot griff erneut auf die kinetischen Effekte und ihre Erotisierung zurück und engagierte sogar viele Leute, die schon im Filmteam für »Die Hölle« gearbeitet hatten. In »Seine Gefangene«, Clouzots einzigem Farbfilm, dient die kinetische Kunst jedoch nicht der Illustration paranoider Vorstellungen, sondern wird als konkretes Setting in die Handlung eingebettet.
Der Film erzählt von Josée, der Frau eines Künstlers, die bei einer privaten Diavorführung seines Galeristen Stanislas Hassler zufällig die Fotografie eines Frauenaktes sieht – in unterwürfiger Pose, gefesselt. Das Bild erweckt in ihr den Wunsch, selbst Objekt eines Unterwerfungsszenarios zu sein, und schon bald darauf wird sie die Geliebte des voyeuristischen Galeristen, eine masochistische Marionette in einem komplizierten Verhältnis zwischen Demütigung und verhinderter Liebe. Interessant ist der Film vor allem durch seine merkwürdige Verbindung von kinetischen Objekten und Puppen sowie menschlichen Körpern. In der Anfangsszene etwa sieht man Stanislas allein in seiner Wohnung beim sexuell andeutungsreichen Spiel mit verschiedenen Puppen, darunter auch eine Barbie, später gibt er sich als Bewunderer von Hans Bellmers Puppenfetischen und fragmentierten Körpern zu erkennen. In einer Szene versucht Clouzot diese Form der Fragmentierung auf die kinetische Kunst zu übertragen. Während einer Ausstellungseröffnung in Stanislas’ Galerie bewegt sich Josée durch ein immer unübersichtlicheres Setting aus rotierenden Quadraten, kreisenden Scheiben und sich spiegelnden Flächen. Inmitten dieses Labyrinths sieht sie ihren Mann in der Umarmung mit einer anderen Frau, worauf das Bild wie ein Kaleidoskop zersplittert und die Figuren in abstrakte Flächen zerschneidet.
»Seine Gefangene« widmet sich außerdem explizit der Inszenierung von Farben. Der Künstler, Gilbert, ist ständig auf der Suche nach Farb- und Lichteffekten. Seinen Blick aus einem Zugfenster inszeniert Clouzot als abstrakte Montage aus Geometrie (Schienen) und changierenden Farbflächen (vorbeiziehende Landschaft), dazwischen fügt er signalfarbige »Fehlbilder«. Mitunter rutscht der Film aber auch in unfreiwillige Komik ab. In einer Szene sieht man Josée und Stan in einer Pin-up-artigen Pose, die an Camp erinnert. Beide stehen in enger Umarmung auf einem Felsen am Meer, er im schwarzen Anzug, sie im grell violetten Abendkleid, während die Brandung dramatisch gegen den Stein peitscht und aufschäumendes Wasser sich über das Paar ergießt. Schließlich versucht »Seine Gefangene« ganz direkt an »Die Hölle« anzuknüpfen, wenn der Film nach Josées Autounfall mit ihren Halluzinationen endet. Doch die wilde Montage aus Spiegelungen, Verzerrungen, Puppen und kinetischer Kunst, Stroboskopeffekten, Lichtern und Farben wirkt hier uninspiriert, wie eine müde Präsen­tation verschiedenster Tricktechniken. An die fiebrig-halluzinatorische Atmosphäre von »L’enfer« kommen sie nicht annähernd heran.

»Die Hölle von Henri-Georges Clouzot«. Dokumentation von Serge Bromberg. Arthouse Premium Edition. 2 DVDs, inklusive Bonusfilm »Seine Gefangene«