Über das zweite deutsche »Wirtschaftswunder«

Brüderle ist kein Boy aus Chicago

Das deutsche Wirtschaftswachstum ist ein Ergebnis der rechtskeynesianischen Industriepolitik des vergangenen Jahrzehnts.

Die deutsche Politik hat einen neuen Star. Bis vor kurzem noch allseits belächelt, rückt Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) nun bis auf die Titelseiten von Journalen und Wirtschaftsmagazinen vor. Der Focus inszenierte Brüderle kürzlich als Sachwalter Ludwig Erhards, mit dessen Buch »Wohlstand für alle« in der einen und der für Erhard typischen Zigarre in der anderen Hand. Der Vergleich mit Erhard gilt hierzulande als höchste Auszeichnung für Wirtschaftsminister. Die zugehörige Laudatio für den letzten verbliebenen Hoffnungsträger der Freien Demokraten lieferte der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel in der Berliner Boulevard-Zeitung B.Z.: »Für mich ist Brüderle – neben Finanzminister Schäuble (CDU) – einer der letzten Garanten einer rationalen, nicht an Umfragen orientierten Politik … Sie sind Merkels beste Männer.« Was Henkel unter rationaler Politik versteht, ist wenig überraschend: »Ein Wirtschaftsminister ist immer dann gut, wenn ihm klar ist, dass die Wirtschaft in der Wirtschaft passiert und nicht in der Politik.« Brüderle hatte eine solche Haltung mit der Verweigerung weiterer Finanzhilfen für Opel und seiner Einschätzung, dass die Verstaatlichung von Banken ein »Schlag gegen unsere Wirtschaftsordnung« sei, zuletzt sehr eindringlich unter Beweis zu stellen versucht.

Nun könnte sich Brüderles Ruhm weiter mehren. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft ist mit 2,2 Prozent im zweiten Quartal dieses Jahres gegenüber dem Vorquartal trotz der bereits guten Prognosen noch spektakulärer ausgefallen als erwartet und befindet sich auf dem höchsten Stand seit 1987. Erstmals liegt das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) fast auf gleicher Höhe mit dem Spitzenreiter China. In Europa ist der Standort Deutschland damit konkurrenzlos. Großbritannien brachte es immerhin noch auf 1,1 Prozent, während die anderen großen europäischen Nationen wie Frankreich (0,6 Prozent), Italien (0,4 Prozent) oder Spanien (0,2 Prozent) deutlich abgehängt wurden. Das Sorgenkind Griechenland musste sogar ein Minus von 1,5 Prozent verzeichnen. So trägt die Bundesrepublik als größte Nationalökonomie des Euro-Raumes dessen Gesamtwachstum um ein Prozent fast alleine. »Deutschland Top, dahinter klafft eine Lücke«, frohlockten die Analysten der verstaatlichten Commerzbank. Nur: Ist dies wirklich eine Folge der marktliberalen Wirtschaftspolitik, für die der Wirtschaftsminister angeblich steht?

Ein genauer Blick auf das zweite deutsche »Wirtschaftswunder« (FAZ) macht deutlich, dass ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren für die relative Krisenresistenz und die schnelle Rekonsolidierung des Standorts Deutschland verantwortlich ist. Zunächst hat keines der traditionellen Industrieländer einen ähnlich hohen Anteil an Industrieproduktion im eigenen Land halten können. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung bei 23,1 Prozent, während er in den USA oder Großbritannien auf 13,3 beziehungsweise 12,3 Prozent gesunken ist.
Die Stabilität dieses industriellen Sektors in der Wirtschaftskrise und die in ihm schlummernden Möglichkeiten für Produktivitätssteigerungen sind die Grundlage der deutschen Exportwirtschaft. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres sind die Auftragseingänge der Maschinenbauer des deutschen Industriekerns Baden-Württemberg um 35 Prozent gestiegen, wie der regionale Verband der Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) kürzlich bekannt gab. Der deutsche Industrie- und Handelskammertag prognostiziert, dass die Exporte in diesem Jahr um elf Prozent steigen werden. Hinzu kommen das Lohndumping – die Lohnquote in Deutschland ist auf das geringste Niveau seit 1960 gesunken – und die Garantie des sozialen Friedens durch die Gewerkschaften; so avancierte Deutschland zu einem Liebling der Anleger (Jungle World 24/2010).
Durch die Verknüpfung mit weitaus weniger produktiven Volkswirtschaften verfügt die Bundesrepublik mit dem Euro über eine permanent unterbewertete Währung, die in den vergangenen Jahren noch weiter an Kaufkraft verloren hat. Wie im Fall des künstlich niedrig gehaltenen Renminbi Chinas eröffnet das dem Produktivitätsweltmeister die Möglichkeit, mit relativ billigen Exportwaren sowohl im Euro-Raum als auch darüber hinaus die Konkurrenz in Schach zu halten.
Deutschland stellt damit keineswegs die »Konjunkturlokomotive Europas« dar, wie Brüderle nach Verkündung der Quartalszahlen und der Korrektur des erwarteten Wirtschaftswachstums für 2010 von 1,9 auf über zwei oder sogar »deutlich über drei Prozent« (Institut für Weltwirtschaft) jubelte, sondern tritt eher als Zerstörer anderer industrieller Kerne in Europa auf. Dass die Aufträge aus dem Euro-Raum allein im vorigen Quartal um acht Prozent zulegen konnten, obwohl in den meisten europäischen Staaten kaum Wachstum zu verzeichnen war, spricht eine deutliche Sprache.
Das deutsche Konjunkturprogramm hat Betriebe subventioniert und die Binnennachfrage trotz fehlender Lohnsteigerungen stabilisiert. Immerhin zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung haben der Bund und die Länder sich das kosten lassen – mehr gaben nur Saudi-Arabien und China aus. Allein in diesem Jahr wird die Bundesrepublik beispielsweise mehr als elf Milliarden Euro für Gebäudesanierungen bereitstellen und damit das schwächelnde Baugewerbe unterstützen. Zuletzt fand selbst Paul Krugman in der New York Times lobende Worte für die Konjunktur­politik der Bundesregierung. Die Ausdehnung der Kurzarbeitsregelungen und der in ihnen enthaltenen Subventionierungen der Betriebe hat zusätzlich zum Erfolg des Standorts beigetragen. Dass die Verschuldung dennoch kein US-amerikanisches Niveau erreicht hat, verdeutlicht die derzeitige Stärke Deutschlands auf dem Weltmarkt, aber auch die Leidensfähigkeit der Bevölkerung hierzulande. Sogar die Ankündigung des allgemein als »sozial ungerecht« angesehenen Sparpakets hat bis auf kleinere Demonstrationen keinen nennenswerten Widerstand hervorgerufen.

Wer diese Erfolgsgeschichte als Ergebnis einer vermeintlich marktliberalen Politik betrachtet, liegt vollkommen falsch. Subventionsmaßnahmen, Arbeitsmarktreformen mit dem Ziel, die Lohnkosten zu senken, die Einbindung der Gewerkschaften, die Konjunkturpakete und die Vergabe von Krediten und Bürgschaften an die Exportmärkte, um der sinkenden weltweiten Nachfrage entgegenzuwirken, diese Instrumente gehören nicht zum Arsenal der wirtschaftsliberalen »Chicago Boys«.
Die staatliche Wirtschaftspolitik ist seit Rot-Grün und der großen Koalition durch einen Keynesianismus von rechts geprägt, der gegenwärtig seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. In dieser Tradition steht auch Rainer Brüderle. Es ist noch nicht ausgemacht, ob sich diese Wirtschaftspolitik dauerhaft fortsetzen lässt. Sollte die deutsche Industriepolitik deutschen Firmen weiterhin so gute Konkurrenzbedingungen organisieren, mit denen sie sich immer größere globale Marktanteile aneignen können, dann wäre das Erfolgsmodell noch lange nicht am Ende. Und davon könnte auch Brüderle profitieren.