Die italienische Linke hat Angst vor Neuwahlen

Ein Heilsbringer für die Linke

Wie reagiert die italienische Linke auf die Regierungskrise? Vor allem ängstlich. Die Opposition will eine Regierung der »nationalen Einheit« und wäre sogar bereit, mit Postfaschisten und Berlusconi-Anhängern zu koalieren. Linke Intellektuelle diskutieren über die Überwindung des »Berlusco­nismus«. Auf Neuwahlen bereiten sich die wenigsten vor. Einer von ihnen ist Nichi Vendola.

Die italienische Linke kann von der Regierungskrise der Rechten derzeit nicht profitieren. Im Gegenteil: Sie demonstriert Schwäche. Das ärgert Nichi Vendola: »Es gibt in der Linken eine Ästhetik der Niederlage, des schönen Todes: Du gehst zu Boden, und die rote Fahne fällt über Dich wie ein sublimer Vorhang.« Apuliens linker Regionalpräsident, der häufig für seine poetische Ausdrucksweise belächelt wird, äußerte sich überraschend derb. Die Erhabenheit der alten Symbolik gehe ihm »auf die Eier«, er wolle endlich siegen – »für ein besseres Italien«. Zum Abschluss der »Generalstände« der nach ihm benannten Basisgruppen Fabbrice di Nichi (Nichis Fabriken) kündigte er deshalb an, sich um das Amt des linken Spitzenkandidaten zu bewerben, sollte es in Folge der Regierungskrise im Herbst zu vorgezogenen Neuwahlen kommen.
Darüber ist das Mitte-Links-Spektrum nicht begeistert. Den kleinen Parteien der radikalen Linken ist Vendolas Alleingang suspekt. Sie plädieren für eine linke Föderation, in der die Identität jeder einzelnen Drei-Prozent-Vereinigung gewahrt bleibt. Eine Provokation ist Vendolas eigenmächtige Kandidatur jedoch vor allem für die Demokratische Partei (PD), die als größte Oppositionspartei den Anspruch erhebt, den Spitzenkandidaten zu stellen.
Doch noch ist völlig offen, wie sich die Regierungskrise nach der Sommerpause entwickeln wird. Dass Ministerpräsident Silvio Berlusconi seine zerstrittene Koalition weiterhin zusammenhalten kann, ist unwahrscheinlich. Staatspräsident Giorgio Napolitano ist jedoch auch im Falle einer Abwahl der Regierung nicht gezwungen, die Kammern aufzulösen. Die Demokratische Partei spekuliert darauf, dass sich im Parlament eine neue Regierungsmehrheit zusammenfindet, und tritt offen für die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« ein. In Anbetracht der schwierigen Wirtschafts- und Finanzlage sei es unverantwortlich, das Land durch vorgezogene Neuwahlen zusätzlich zu destabilisieren. Der Parteivorsitzende Pier Luigi Bersani ließ durchblicken, dass die Demokraten bereit wären, im Rahmen einer solchen »Übergangsregierung« nicht nur mit den katholisch-konservativen Parteien der parlamentarischen Mitte und der postfaschistischen neuen Gruppierung von Gianfranco Fini zu koalieren, sondern auch mit bisher treu­esten Berlusconi-Anhängern.

Über die Frage, mit welcher Koalition der Ministerpräsident zu stürzen sei, diskutieren seit einigen Wochen auch parteiunabhängige Intellektuelle. Die Angst ist groß, Berlusconi könnte aufgrund seiner finanziellen und medialen Einflussmöglichkeiten vorgezogene Neuwahlen erneut für sich entscheiden und damit seine Macht dauerhaft konsolidieren, zumal das aktuelle Wahlrecht dem Wahlsieger einen komfortablen Mehrheitsbonus gewährt.
Auf Seiten der radikalen Linken sieht der Literaturkritiker Alberto Asor Rosa die Notwendigkeit einer neuen »nationalen Befreiungsfront«. Er fordert alle parlamentarischen Kräfte, »von der extremen Linken bis zum moderaten Zentrum«, zu einem radikalen Bruch mit dem Regime Ber­lusconis auf. Sie sollten sich bis zum Ende der Legislaturperiode zu einer »Regierung für den ­demokratischen Wiederaufbau« zusammenschließen. Würden dagegen unter den aktuellen Bedingungen Neuwahlen angesetzt, werde er eine Kampagne zur »massenhaften Stimmenenthaltung« unterstützen.
Paolo Flores D’Arcais, Herausgeber der linksliberalen Zeitschrift Micromega, hat ein ähnlich apo­kalyptisches Szenario entworfen. In einem offenen Brief warnte er Vendola davor, überstürzt Neuwahlen zu fordern. Es gehe zunächst darum, überhaupt erst wieder Bedingungen zur Abhaltung demokratischer Wahlen zu schaffen. Er fordert die Zivilgesellschaft auf, durch eine Massendemonstration Druck auf das Parlament auszuüben, damit dieses ein neues Medien- und Wahlgesetz ausarbeite. Unterstützung erfährt dieser Vorschlag von Antonio Di Pietro und dessen Oppositionspartei »Italien der Werte« (IdV). Für Anfang September ist ein neuer landesweiter »No-B-Day« geplant.
Der pure Anti-Berlusconismus erscheint allerdings einigermaßen anachronistisch zu einem Zeitpunkt, da Berlusconis Machtsystem schon aufgrund interner Kritik auseinanderbricht. Die Krise des Rechtsbündnisses offenbart somit einmal mehr die Unbeholfenheit der italienischen Opposition und legt die Widersprüche innerhalb des linken Spektrums offen. Dem katholisch-liberalen Flügel der Demokraten fehlt die eindeutige Abgrenzung zur konservativen Rechten, die sozialdemokratischen Linken verfügen über keine Durchschlagskraft, und der IdV glaubt weiterhin, die gesellschaftliche Aufarbeitung des Berlusconismus vor allem an die Staatsanwaltschaft delegieren zu können.

Im Vergleich zu dieser Opposition, die trotz wiederholter Niederlagen auf ihrem jeweiligen Standpunkt verharrt, sucht Vendola tatsächlich nach ­einer Neupositionierung. Als er vor knapp zwei Jahren nach seinem Austritt aus der Partei Rifondazione Comunista die Gruppierung »Linke, Ökologie und Freiheit« (SEL) ins Leben rief, verstand er sie als Sammlungsbewegung zwecks Überwindung der traditionellen Parteiorganisation. Heute ist er überzeugt davon, dass die starren Strukturen des Mitte-Links-Spek­trums aufgebrochen werden müssen, um dem Rechtsbündnis entgegenzutreten. Bereits im Frühjahr musste er sich in Vorwahlen zuerst gegen einen PD-Kandidaten durchsetzen, um sein Amt des Regionalpräsidenten in Apulien zu verteidigen (Jungle World, 14/10). Damals entstanden die parteiübergreifenden Wahlausschüsse »Nichis Fabriken«. In der Euphorie nach seinem überragenden Sieg etablierten sich die Basisgruppen, mittlerweile wurden auch außerhalb Apuliens »Fabriken« gegründet.
Vendola sieht sich in der Rolle des linken Heilsbringers. »Ich bin, was Ihr seid«, ruft er seinen Anhängern zu, »wann immer Ihr das Mitte-Links-Bündnis nicht mehr ertragen könnt, weil Ihr eine andere Welt im Sinn habt.« Wie diese aussehen könnte, wird sich dann herausstellen. »Fragend schreiten wir voran«, zitiert Vendola für seine linken Anhänger den mexikanischen Befreiungskämpfer Subcomandante Marcos. Meist hält er seine Ansprachen aber in der Tonlage des Johannesevangeliums: »In dieser tiefen Finsternis hilft kein mittelmäßiger Vorschlag, sie wird nicht erleuchtet durch eine Übergangsregierung.« Er wünscht sich eine »Allianz«, die sein soll wie »ein Leuchtfeuer, das einen Weg aus dem Dunkel weist«. Seine Konkurrenten und Anhänger streiten sich darüber, ob Vendola ein Populist sei, der die Politik genauso personalisiert wie Berlusconi, oder doch eher ein »weißer Obama«, der sein Charisma für soziale und kulturelle Erneuerung einzusetzen weiß. Doch Vendola orientiert sich weder an dem einen noch an dem anderen Vorbild. Wer in Italien die nächsten Wahlen gewinnen will, muss sich auf eine überparteiliche Identifikationsfigur berufen. »Steht auf und strebt nach dem Sieg, ohne Angst vor einer Niederlage.« Vendola wirbt mit einem Slogan, auf dessen Wiedererkennungseffekt er sich verlassen kann. »Habt keine Angst«, waren die ersten Worte, mit denen Karol Wojtyla als Papst Johannes Paul II. vor seine jubelnden Anhänger trat.