Der Fall Sarrazin und die SPD

Die Chiffre Sarrazin

Die Bundesbank möchte Thilo Sarrazin loswerden und die SPD will ihn aus der Partei ausschließen. Mit Amtsenthebung und Parteiausschluss dürfte sich der Fall Sarrazin allerdings kaum erledigt haben.

Was braucht es, um in Deutschland zum »Märtyrer der Meinungsfreiheit« (FAZ) zu werden? Es braucht ein von einem »Klartext-Politiker« (Bild) verfasstes Sachbuch mit dem Titel »Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzten«, das publikumswirksam im Haus der Bundespressekonferenz präsentiert wird. Dazu kommen als »Tabubruch« inszenierte Vorabdrucke in Leitmedien wie Bild und Spiegel sowie Auftritte in Talkshows. Es braucht überdies mit der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) einen renommierten Verlag, der keine Bedenken hat, Propaganda für eine moderne Variante der Sozialeugenik in die Verkaufslisten zu befördern. Die als deutsche »Identitätsdebatte« geführte Kontroverse um das Pamphlet des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin trägt vielfach irrationale Züge. In den Medien präsente Themen wie Ausländerkriminalität, Ehrenmorde oder Zwangsehen aufzugreifen, wird als »Tabu« gehandelt, das das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank mutig gebrochen habe. Auch Henryk M. Broder oder Necla Kelek, die Sarrazin in der Debatte lautstark unterstützen, gerieren sich, als hätten sie mit ihren Positionen im vermeintlich politisch korrekten Deutschland Auftrittsverbot und müssten ihre Bestseller als Kassiber im Untergrund unter die Leute bringen. Kritik an Sarrazin gilt diesen Liberalen wohl als Tugendterror. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel zaghafte Einwände gegen ein Buch äußerte, das sie angesichts des Wiederholungszwangs seines Verfassers kaum lesen musste, um den Inhalt zu kennen, entblödeten sich selbst kritische Geister nicht, die Liste der Nazi-Vergleiche mit dem Verweis auf die Tradition der »Reichsschrifttumskammer« zu bereichern. Wie wäre ein vergleichbarer Streit in den USA verlaufen? Angenommen, ein Repräsentant der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hätte über afroamerikanische welfare queens gesagt, diese würden »ständig neue kleine kraushaarige Kinder produzieren«. Zudem hätte dieser Vorstand der Fed die überdurchschnittliche Intelligenz aschkenasischer Juden gepriesen, die Integrationswilligkeit der muslimischen Communities bestritten und als Erbforscher über ein »jüdisches Gen«, die »natürliche Zuchtwahl« und »negative Selektion« dilettiert. Wie lange wäre er wohl – egal ob unter George W. Bush oder Barack Obama – im Amt geblieben? Der Antrag, Thilo Sarrazin aus dem Vorstand der Bundesbank zu entlassen, folgt auch dem Interesse der Exportnation Deutschland, deren Regierung Rücksicht auf internationale Kritik nimmt. Für das Image der Bundesbank wäre der meinungsfreudige Ökonom ein virulentes Problem. Doch trotz der drohenden Amtsenthebung durch Bundespräsident Christian Wulff (CDU) und eines möglichen Ausschlusses aus seiner Partei, der SPD, ist Sarrazin in einem Punkt schon jetzt der Debattensieger. Seine Gegner können die Zustimmung in der Bevölkerung nicht ignorieren. Bleibt Sarrazin in der SPD, gelten dessen rassistische und sozialeugenische Ansichten als legitimer Programmteil einer »Volkspartei«. Im Falle von Amtsenthebung und Parteiausschluss gilt er wiederum als Opfer der Sprach- und Gedankenpolizei. Richten sich Union und SPD aber nach seinen Vorgaben, verprellen sie die moderate »Mitte«. Der »Fall Sarrazin« verdeutlicht die Krise der Repräsentation. Bei der Modernisierung der Einwanderungspolitik folgen viele Wähler den Gewählten nicht. Anhänger Sarrazins sehen nicht ein, warum er zum Paria jener politischen Klasse degradiert werden soll, unter deren Beifall er zuletzt in der Hauptstadt »durchregiert« hat. In Leserbriefen und Internetforen findet sich viel Unterstützung für eine Reizfigur, deren Name alleine schon den Medien Marktanteile sichert. Die Chiffre »Sarrazin« dient außerdem als Munition gegen Christan Wulffs »bunte Republik«. Die Öffentlichkeit ist gespalten. Während die Leitartikel und Feuilletons zwischen pathetischer Verteidigung und Kritik changieren, tut sich Sarrazin effektvoll als Sprecher der »schweigenden Mehrheit« hervor. Der jüngste »Skandal« zeigt auch die Potentiale und Probleme einer deutschen Rechtspartei, deren mögliche Anhängerschaft eine von Bild am Sonntag in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage auf rund 18 Prozent der Bevölkerung beziffert. Diese Tendenz ist nicht neu. Schon 2006 kam die Leipziger Studie »Vom Rand zur Mitte« zu dem Ergebnis, dass 8,6 Prozent der deutschen Bevölkerung ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Diese starke Minorität hat auf Bundesebene keinen Repräsentanten. Nicht nur die FAZ geht davon aus, dass ein »Hauch von Rebellion« wider die Altparteien in der Luft liegt. Dabei bedient Sarrazin nicht nur den rechten Rand. Geradezu obsessiven Zuspruch finden seine Thesen bei scheinaufgeklärten Liberalen, denen es vorgeblich um die Freiheit des Individuums und gegen die Macht der Sippe geht, die gleichzeitig aber voller Verachtung auf die staatlich alimentierte Unterschicht blicken. Hier hat der Finanzpolitiker durchaus einen Nerv getroffen. Bislang scheiterten Parteien rechts von der Union an ihrer internen Zerstrittenheit, einer fehlenden charismatischen Führungsfigur und an der offiziellen Stigmatisierung eklatanter Rechtsabweichungen. Wer aber auch immer Vorsitzender einen neuen deutschen Rechtspartei sein könnte – Thilo Sarrazin ist für den Posten eines massenwirksamen Volkstribuns denkbar ungeeignet. Sein Auftreten wirkt linkisch. Auch habituell ähnelt er zu sehr den Vertretern einer mit allen Gratifikationen ausgestatteten Staatsklasse, deren Berufsrisiko jenseits von Maulkorberlassen meist darin bestand, den Folgetermin zu verpassen. Sein Weltbild folgt der altsozialdemokratischen Fetischisierung von Vollbeschäftigung, Stechuhr und Lohnarbeit. Sarrazin formuliert einen klassischen neokonservativen Topos, der auch bei den sogenannten Kanalarbeitern in der SPD Beifall findet. Demnach schafft gerade der Sozialstaat die Anreize für die erhöhte Reproduktion der Unterschichten. Auch sozialeugenische Traditionen waren der Sozialdemokratie nicht fremd. Wie schon im »Kopftuchmädchen«-Interview seziert Sarrazin in seinem Buch die Bevölkerung mit dem kalt kalkulierenden Blick eines Betriebsprüfers. Scharf richtet er über die Fertilitätsraten der autochthonen Teile der Unterklassen und kritisiert deren mangelnde »Kaloriendisziplin«. Gerade dieser Tonfall käme »unten« dauerhaft nicht an. Für eine erfolgreiche Rechtspartei, die vom Professor bis zum Prekariat schichtenspezifisch agitieren müsste, wäre der ressentimentgeladene Bildungsbürger zu elitär. Derzeit ist Sarrazin der Wunschkandidat für eine Gegenelite, die aus einer diffusen Stimmung herbeigesehnt wird. Entscheidender als die Person ist jedoch, warum er zum Initiator der aktuellen Debatte über die Einwanderungsgesellschaft werden konnte. Wohlfeile linksliberale Kritik übersieht hier eine unangenehme Wahrheit: Sarrazin stellt die nicht nur bei den Grünen immer noch anzutreffende »Die-Ausländer-bereichern-uns-doch«-Rhetorik vom Kopf auf die Füße. Auch in dieser »multikulturellen« Logik werden Migranten vom Müllmann bis zur Putzfrau nach funktionalen Kriterien sortiert. Erhöht sich der Anteil derjenigen, die Transferleistungen beziehen, funktioniert diese ohnehin schwache Argumentation überhaupt nicht mehr. »Ausländer« galten immer als ökonomische Verfügungsmasse. Doch selbst nach liberal-kapitalistischen Maßstäben ist Deutschland kein modernes Einwanderungsland, ist Berlin nicht Birmingham. Programmatisch wurde die deutsche Ausländerpolitik jahrzehntelang vom Primat der Blutsbande, von Rückkehrprämien und Realitätsleugnung bestimmt. Wäre Deutschland wirklich »politisch korrekt« – hätte es dann die Opfer der rassistischen Asyldebatte der neunziger Jahre, als in den Zeitungen gegen Asylbewerber gehetzt wurde und Brandsätze in die Flüchtlingsheime geworfen wurden, geben können? Die programmatische Rückständigkeit und das Wissen um die Stimmungslage in Teilen der Öffentlichkeit erklärt den aufgeschreckten Aktionismus als Reaktion auf Sarrazins Bestseller. Dass dieser trotz des darin enthaltenen Sozialdarwinismus als Impuls für eine neue Migrationsdebatte wirken kann, zeigt, dass zumindest für einen Backlash in der Debatte eine neue Rechtspartei gar nicht nötig ist.