Überall Protest! Der »Aufstand der Bürger« in der BRD

Sie kommen, um sich zu beschweren

In der Bundesrepublik wird gegen Schulreformen, Bahnprojekte und die Atompolitik der Bundesregierung protestiert. Um Solidarität geht es bei diesem »Aufstand der Bürger« nicht.

»La liberté guidant le peuple« (Die Freiheit führt das Volk) heißt eines der berühmtesten Gemälde der Neuzeit. Eugène Delacroix malte dieses Bild nach der Julirevolution 1830. Es ist eine Darstellung des Aufstands der Pariser Bevölkerung, im Bildvordergrund liegen Leichen, über die eine Frau hinweg schreitet, in der rechten Hand hält sie die Trikolore, die Flagge der Revolution, in der linken ein Gewehr mit Bajonett. Auf ihrem Kopf befindet sich die Jakobinermütze, ansonsten trägt sie lediglich ein Kleid; es ist herunter gerutscht und entblößt eine Brust. Sie stürmt voran, hat eine aufgebrachte Menge hinter sich: bewaffnete Bürger, Arbeiter, links neben ihr ein Zeitungsjunge, die Pistole in die Luft gestreckt, einfache Leute.
Das Gemälde stellt nicht nur Geschichte dar, sondern hat auch selbst Geschichte geschrieben. Insbesondere die Figur der Freiheit hat sich als Allegorie verselbstständigt, ist unzählige Male kopiert und auf Illustrierten oder in Schulbüchern reproduziert worden: Wir kennen alle dieses Bild, wegen dieser Frau. Dass sie die Freiheit ist, bewaffnet, halbnackt und barfuß, die Flagge der Republik hochhaltend, lässt sie als übersinnliches Symbol erscheinen. Als das Bild 1831 im Pariser Salon ausgestellt wurde, löste es einen kleinen Skandal aus. Weniger die entblößte Brust, sondern zwei andere Aspekte waren dafür verantwortlich. Es ging um die Freiheit, die das Volk führt, nicht anführt. Und darum, dass hier erstmals »das Volk« bildlich dargestellt und damit gleichsam die moderne politische Idee des Volkes verkörpert ist. Insofern sind die Leute hinter der allegorischen Freiheitsfigur ebenso Allegorie. Hier reklamieren Menschen, eine Gesellschaft zu sein, eine um ihre politischen Rechte kämpfende Einheit, ein Volk als demos, nicht einfach ein Haufen, eine bloße Menge.

Das politische Ziel ist der als Republik konstituierte Staat, die Inkorporation der bürgerlich-revolutionären Gesellschaft. Nicht ganz zwei Jahrhunderte später gibt es andernorts, in der gegenwärtigen Bundesrepublik, ein Kontrastbild, das kaum unterschiedlicher ausfallen könnte.
In Deutschland steht, bar jeder allegorischen Originalität, Michael Kohlhaas alias Thilo Sarrazin auf den Barrikaden; und die Barrikaden sind das einzige Sinnbild, das es auf diesem, von den Medien entworfenen Gemälde noch gibt. Denn es sind ja keine Straßenschlachten, die hier ausgefochten werden, sondern es geht vor allem um eine Demonstration demagogischer Gelassenheit, die sich alle Instanzen des Rechtsstaats und die demokratische Öffentlichkeit zunutze macht: Parlamentsdebatten, Lesungen, Internetblogs, Leserbriefe, Volksentscheide, Anne Wills Talkshow, Spiegel und Spiegel-TV und die Bild-Zeitung. Dort werden dann auch der »Bürgeraufstand gegen die Politik«, die »Dagegen-Republik« und das einig »Volk der Widerborste« erfunden. Wobei es letztlich fast egal ist, ob mit FDP- und NPD-Klientel eine Schulreform gekippt wird, ob Stuttgarter sich aus Sorge um Lebensqualität und Stadtpanorama gegen ein Bahnprojekt wehren, sich ein irrationaler Protest gegen eine irrationale Atompolitik formiert oder ein deutscher Mob gegen als nichtdeutsch beziehungsweise undeutsch identifizierte Lebensweisen pöbelt und prügelt.
Das integrierte Spektakel in Deutschland inszeniert dies als Volk, einschließlich eines politischen Selbstbewusstseins, das sich mit allen demokratischen Mitteln gegen die Demokratie stemmt. Die Freiheit, die dieses Volk anführt, ist allerdings bloß die Meinungsfreiheit; und die ist bekanntlich keine anmutige Göttin, sondern in der deutschen Nationalmythologie die beleidigte Volksseele selbst, die nicht die Trikolore trägt, sondern lediglich ein Spruchband, auf dem »Man wird doch mal sagen dürfen … « zu lesen ist.
Ohnehin geht es der Meinungsfreiheit nicht um Freiheit, sondern um Meinung. Sie bildet gleichsam den Restgehalt einer Demokratie, die nie mehr war als ein statistisches Formalverfahren der Stimmenabgabe: Ob die Mehrheit gegen einen Bahnhof ist, gegen AKW, gegen »Zuwanderer«, gegen »die da oben«, ist gleichgültig. Hauptsache ist, es ist die Mehrheit und damit repräsentativ für das, was dann als Volk namhaft gemacht werden kann.
Unter den damit Gemeinten finden sich allerdings genügend, die genau darüber froh sind: als Volk, genauer als deutsches Volk angesprochen zu werden, ja, als Volk ernst genommen zu werden. Und so zeigt sich bei aller Heterogenität und Disparatheit des vermeintlichen Protestkollektivs doch die Volksgemeinschaft als der einzige gemeinsame Nenner, die Einheit des Rackets. Nicht bei allen, aber bei denen, auf die es anzukommen scheint, wenn in den Medien das Bild des von der Meinungsfreiheit geführten Volkes bestätigt werden soll: der beleidigte, wütende Deutsche. Und genau an dieser Stelle wird greifbar, wie Inhalte bestimmt werden, um dann die Form des Protestes, die Figur »Bürger gegen Politiker« zu konstituieren. Bekommt man zum Beispiel aus Frankreich Bilder von Großdemonstrationen gegen Sarkozys Antiziganismus, so sind es hierzulande die Bilder von Deutschen, die vor laufender Kamera Muslimen schon mal Pogrome androhen, sollten sie nicht freiwillig verschwinden, oder sich freiwillig wie Deutsche verhalten, also wie Deutsche glauben, wie Deutsche denken und sprechen. Keine Bilder gibt es hingegen von Hartz-IV-Protesten oder Gewerkschaftskämpfen (Lidl, Schlecker), keine Bilder von praktischer und echter Solidarität, etwa von Aktionen gegen Abschiebung und Rassismus. Das heißt, es gibt keine Bilder, durch die der Protest eine politische Dimension erhielte.

Politisch artikuliert sich dieses Volksbegehren nur in Abgrenzung zur Politik, und zu diskutieren ist, ob hier nicht Carl Schmitts Diktum widerlegt wird, dass das Politische bleibt, auch wenn die Politik verschwindet. Das Politische scheint sich nämlich im unbedingten Wunsch, regiert zu werden, zu verflüchtigen; gleichwohl steckt darin aber auch ein regressives Moment von Ohnmacht, nämlich die Unfähigkeit, sich im demokratischen Sinne regieren zu lassen beziehungsweise selbst zu regieren. Wenn man so will, wird hier auf deutschem Boden empirisch vorgeführt, wo die Denkfehler der Debatte über Kommunitarismus und Liberalismus vor zwanzig Jahren lagen: Die Gemeinschaft ist keine vermittelnde Instanz zwischen Individuum und Gesellschaft, zumal wenn »Individuum« und »Gesellschaft« keine konstitutiven Momente der gegebenen Verhältnisse mehr darstellen; wo Subjekte in der »eindimensionalen Gesellschaft« (Herbert Marcuse) ohne Subjektivität nur noch als »Pseudoindividuen« (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer) existieren, löst sich ein komplexer Sozialcharakter in ein reflexhaftes Reiz-Reaktions-Schema auf. Dabei sind es die Gefühle, die zählen: »Wenn sich die Bürger mehr engagieren, wird der deutsche Diskurs emotionaler, heftiger«, heißt es im Spiegel über die Anti-AKW-Proteste. Und wenn es einen Konsens über Sarrazin gibt, dann den, dass er die derzeitige deutsche Gefühlslage adäquat erfasst habe. Dass es sich bei diesen Emotionen des Aufbegehrens allerdings nur um Hass oder Nicht-Hass handelt, also um die deutsche Form von likes und dislikes, wird verschwiegen.

»Wenn die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen«, so hat Lenin einmal die Bedingungen für die Revolution erklärt. Heute scheint es umgekehrt zu sein: Die unten wollen, aber die oben können nicht mehr. Und das gehört auch zum bindenden Element der Bürgerproteste: die Kompensation von Ohnmacht durch einen Willen zur Macht, der nicht weiter reicht als die Opposition zu der den Nichtdeutschen unterstellten »Integrationsunwilligkeit«, nämlich eine unbedingte Integrationswilligkeit. Auch hier ist substanziell geworden, was eigentlich nur akzidentielles Schema war. Integration ersetzt Identifikation, ist Anpassung und zugleich der Versuch, durch Konformität gesellschaftliche Widersprüche zu lösen oder wenigstens zu verdrängen. Dass dies nicht gelingt, kann zwar temporär der Unfähigkeit politischer Entscheidungsträger angelastet werden, bleibt aber dauerhaft in der antagonistischen Struktur der Gesellschaft selbst begründet. Die lässt sich jedoch nur unter Ausblendung sämtlicher Produktionsverhältnisse in Volksgemeinschaften und Parallelgesellschaften für den Bürger vorstellungsgerecht zerlegen.
So wird für den Einzelnen der soziale Bereich überschaubar, in den man sich zu integrieren hat. Zugleich wird auch der Feind deutlicher erkennbar: Das können dann einzelne Religionsgruppen sein oder Angela Merkel (CDU), Bürgermeister und Baugesellschaften oder selbst arbiträre Alltagshandlungen (»Sowas tut man in Deutschland nicht!«). Auch diese identifikatorische Logik ist aber eine des Widerspruchs: Die Integrations­leistungen des zum Protest-Volk zusammengeschweißten Kollektivs werden durch zunehmende Desintegration konterkariert.