Über ein Meisterwerk erotischer Literatur: Alberto Moravias Gespräch mit Claudia Cardinale

Die Augen, der Mund, die Nacht, der Tag

Das Gespräch, das Alberto Moravia 1961 für die Zeitschrift Esquire mit Claudia Cardinale geführt hat, ist ein Meisterwerk der erotischen Literatur.

Es lässt sich über den Sexus, darin besteht heutzutage Einigkeit, allenfalls sachlich oder vulgär reden. Als seine einzigen Erscheinungsformen im Medium der Sprache gelten der anatomische Report oder die Zote. In der Pornografie, die den sinnlichen Leib zum bloßen Körper und das Glück des Augenblicks zum kruden Effekt erniedrigt, finden Sachlichkeit und Vulgarität zueinander. Die Erotik hingegen ist der Gegenpart der Pornografie: Wo diese alles entblößt, lebt jene vom Schweigen; wo diese selbst das Intimste ans Licht der Öffentlichkeit zerrt, verleiht jene noch dem Allgemeinsten die Aura der Intimität. Eben deshalb aber ist Sprache im emphatischen Sinn immer schon Kritik der Pornografie. Wenn Sprache pornografisch werden will, muss sie sich selbst durchstreichen, regredieren auf die Faktizität der Körper, die sich nie in Sprache verwandeln lässt, ohne transzendiert zu werden. Sprache selber ist Artikulation von Sinnlichkeit: Sie kann umschmeicheln oder liebkosen, angreifen oder brüskieren. Sie ist eine Ausdrucksform des Leibes.
Im Mai 1961, als der italienische Dichter Alberto Moravia, Autor des später von Jean-Luc Godard verfilmten Romans »Die Verachtung«, die durch ihre Rolle in Luchino Viscontis »Rocco und seine Brüder« bekannt gewordene Schauspielerin Claudia Cardinale für die Zeitschrift Esquire interviewen sollte, war das italienische Kino gerade dabei, den Eros der Sprache zu entdecken. Im Werk Michelangelo Antonionis, vor allem in seinem Film »Die Nacht«, der 1961 Premiere hatte, ist Sprache immer beides zugleich, Entfremdung und Versöhnung, Berührung und Hindernis. Dennoch sind die wenigen Augenblicke, in denen seine Protagonisten einander nahe sind, Momente der Sprache, nicht des Verstummens. Das Gespräch, das Moravia mit Cardinale geführt hat und das nun in hervorragender Übersetzung vorliegt, erscheint im Nachhinein als Kommentar zum Kino Antonionis und vorweggenommene Antwort auf die bekannte Szene aus Godards Film, in der Michel Piccoli über den nackten Körper von Brigitte Bardot streichelt, um aufzuzählen, welche ihrer Körperteile er liebt. Während aber Godard vorführt, wie der Leib durch Verwandlung in Sprache seinen Zauber verliert, vollzieht sich bei Moravia die Verwandlung von Sprache in Sinnlichkeit. Dass die Sprache kein Feind des Leibes sein muss, sondern imstande ist, überhaupt erst Intimität zu stiften, gehört zu den wichtigsten Motiven von Moravias Werk. Im Interview mit Cardinale wird diese Einsicht zum Movens des Dialogs.
Gleich zu Anfang verwahrt sich Moravia gegen den Voyeurismus üblicher Star-Interviews und erklärt, sich nicht um die Meinungen oder Erlebnisse seiner Gesprächspartnerin zu kümmern, sondern nur deren »Erscheinung« in den Blick nehmen zu wollen: »Es interessiert mich nicht, welches Ihre Ansichten zur Politik sind oder zur Liebe, zur Kunst, zu Frauen und Männern, zu Italien, zu Amerika, zum Kino, zur Religion …  Im Grunde interessiere ich mich für all das nicht, was offenbar das unverzichtbare Material von Interviews darstellt.« Die Elemente, die nach geläufiger Meinung den Charakter einer Person ausmachen, seien in Wahrheit »Dinge, in denen Sie Millionen anderer Menschen gleichen und die Sie in keiner Weise unverwechselbar machen«. Unverwechselbar sei nicht die Innerlichkeit, sondern die Oberfläche: »Stellen Sie sich vor, in Ihrem Pass wären statt Ihrer physischen Beschreibung Ihre Vorlieben, Ihre Weltsicht, Ihr bisheriges Leben und Ihre zukünftigen Pläne verzeichnet – glauben Sie, dass Sie dadurch erkennbar würden? Nein, … Sie würden in der Anonymität versinken.« Was die Menschen für ihr Eigenstes halten – ihre Weltanschauung, ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen –, ist in Wahrheit das Austauschbarste. Sie selbst sind sie in dem, was sie als Äußerlichkeit verachten – in ihrer »Erscheinung«.
Viel Zeit verbringt Moravia damit, Cardinale ihren Körper beschreiben zu lassen oder ihn selbst zu beschreiben. Die Haare: »Leicht gewellt, so dass sie Ihnen nicht leblos auf Schultern und Brust fallen, sondern einen Eindruck von Lebendigkeit und Bewegung vermitteln und mit ihren Wellen die Rundungen Ihres Körpers begleiten.« Die Augen: »Von einem ziemlich dunklen Braun, aber sehr leuchtend und glänzend«. Der Mund: »Schmollend, verachtungsvoll und vor allem ein bisschen grob, bäurisch«. Die Hände: »Hände eines Jungen oder die einer dünnen, mageren Frau.« Obwohl er sie tatsächlich fast nach Art eines Passkontrolleurs befragt, nimmt Moravia ebenso wenig die Rolle des männlichen Autokraten ein, wie Cardinale das Klischee des weiblichen Echos erfüllt. Vielmehr sprechen beide miteinander, um etwas aufblitzen zu lassen, das im Genre des Interviews fast nie entsteht: den Einklang von Intimität und Diskretion. Moravia lässt den Voyeurismus des Star-Interviews umschlagen in eine intime Kommunikation, wie sie nicht einmal unter Geliebten, sondern nur unter freundlich gesonnenen Fremden stattfinden kann. Sie ermöglicht es ihm, Cardinale fast die Hälfte des Gesprächs lang darüber zu befragen, wie sie zu Bett geht und wieder aufsteht. Das »Verschwinden« in der Nacht und das »Erscheinen« am Tag nämlich seien die beiden genuin menschlichen Handlungen: »Bei Tag sind die Dinge zu sehen, in der Nacht verschwinden sie. Der Tag ist folglich die Zeit der Objektivität, so angefüllt ist er, ja überbordend von sichtbaren Dingen, die uns ihre Präsenz gleichsam aufdrängen; die Nacht hingegen ist die Zeit der Subjektivität: Schwarz und ohne Dinge, wird sie von unseren Phantasien ausgefüllt, von unseren Trugbildern, unseren Irrtümern, unseren Träumen.« Nur der Mensch aber könne den »Wunsch« verspüren zu verschwinden: »Und dies tut er jeden Abend, indem er zu Bett geht. Er verschwindet zunächst in der Dunkelheit seines Zimmers und dann, sobald er einschläft, im Dunkel seines Bewusstseins.«
Die Kleider, die der Mensch beim Verschwinden in der Nacht ablege, fungierten als Übergangsobjekte in die Welt des Tageslichts: »Wenn Sie zu Bett gehen und einschlafen, schaffen Sie sich ab, lösen Sie sich nach und nach auf; wenn Sie aufwachen und aufstehen, setzen Sie sich ebenso schrittweise wieder zusammen, bilden Sie sich neu.«
Mittelpunkt des Gesprächs ist nicht zufällig eine Erzählung Cardinales von einem ihrer Träume, in dem sie aus einem Fenster fällt und »beim Aufprall zerspringt«, was keine »unan­genehme«, sondern eine »merkwürdige Empfindung« sei: Der Leib, im Alltag scheinbar identisch mit der individuellen Person, erscheint im Traum als Fremdes, das der Träumende beobachten kann wie ein unabhängiges Objekt. Als ein solches Objekt vermag der Gesprächspartner sich auch im Dialog zu erkennen, wie Moravia ihn begreift. Gerade im Äußerlichen zeigt sich das Unbewusste: »Sie müssen daher keine Angst haben, ich könnte in Ihrem Innersten lesen. Was es in Ihnen zu lesen gibt, steht auf der Person selbst geschrieben.« Dieser Maxime folgt auch der Gesprächsband, der gerade dadurch, dass er Diskretion wahrt, die erotische Substanz der Sprache offenbart. Wer ihn, ergriffen und verwirrt, wieder schließt, ist selbst verwandelt.

Alberto Moravia: Claudia Cardinale. Ein etwas ungewöhnliches Gespräch. Aus dem Italienischen von Sophia Marzolff. Schirmer/Mosel, München 2010. 88 Seiten, 12,80 Euro