Der Hass der Reichen

Eure Armut kotzt sie an

Die Krise macht die Bürger irre. Die neue Ausgabe der Studie »Deutsche Zustände« stellt den wachsenden Hass der Wohlhabenden fest.

Seit 2002 belegt die sogenannte Heitmeyer-Studie auf empirischer Grundlage eine zunehmende »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« im deutschen Durchschnittsbewusstsein. Der neuesten Studie zufolge macht sich nun auch in der sogenannten bürgerlichen beziehungsweise post-bürgerlichen Mitte die Menschenfeindlichkeit auffällig bemerkbar: als ein diffuses Konglomerat aus Ressentiments und dem Wunsch nach Revolte, das sich im Sozialneid von oben ebenso niederschlägt wie im pöbelnden Angriff auf sozial oder als individuell schwächer wahrgenommene Menschen.

Diffus ist dies, insofern »Bürgerlichkeit« im Sinne von Liberalität oder Aufklärung verroht, ihre Konsistenz verliert und sich auf die Zufälligkeit individualisierter Meinung zusammenzieht. Zu diskutieren ist, ob sich eine herrschende Schicht ideologisch neu ausrichtet und ob sich damit ein neuer Begriff des Politischen etabliert, der nicht länger an die alten Formen der Rechtstaatlichkeit und Zivilgesellschaft gekoppelt ist.
»Welche Auswirkung hat das Gefühl der Bedrohung durch die Krise auf Einstellungen zu schwachen Gruppen? Wie steht es um die Solidarität in unserer Gesellschaft, und welche Entwicklung zeichnet sich dabei gerade in den höheren Einkommensgruppen ab? Welches Verständnis von Gerechtigkeit gibt es, wem wird Unterstützung zugebilligt, wem nicht, und welche Auswirkung hat die Ökonomisierung der Gesellschaft für Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen?« Das waren die in diesem Jahr im Vordergrund stehenden Fragen der Langzeitstudie »Deutsche Zustände«. Seit 2002 untersucht das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer »Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber unterschiedlichen Adressatengruppen«.
In der nunmehr neunten Folge der Untersuchung wurden in diesem Frühsommer 2 000 Personen befragt, wobei diesmal Besser- und Höherverdienende besondere Beachtung fanden. Sie empfinden die gegenwärtige, als »Finanzkrise« wahrgenommene ökonomische Entwicklung als »Bedrohung« für ihren Lebensstandard und reagieren darauf mit einer »aggressiven Stimmung«, die sich schließlich – wie die Studie zeigen kann – zum »Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« verdichtet. Dieses »Syndrom« bestehe aus zehn Elementen: aus Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, der Abwertung von Langzeitarbeitslosen, der Abwertung von Behinderten, der Abwertung von Obdachlosen, Islamfeindlichkeit und der Verteidigung von »Etabliertenvorrechten«.

Die Ergebnisse verweisen auf einen veränderten Sozialcharakter im bürgerlichen Milieu, schließlich auf eine drastische Veränderung des Bürgertums selbst. Es werden Vorurteile geäußert, die in ihrer Offenheit dem bürgerlichen Ideal widersprechen; sie dienen unverhohlen »der Besitzstandswahrung« und der Sicherung von Privilegien. Gerade bei den Besserverdienenden ist die Ansicht verbreitet, »weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten«. Das spiegelt sich darin wieder, dass »Höherverdienende Langzeitarbeitslose mit 50 Prozent deutlich mehr abwerten, als Befragte in niedrigeren Einkommensgruppen dies tun«.
Gekoppelt ist das in den einkommensstarken Schichten mit einer deutlichen Zunahme »rechts­populistischer Einstellungen«, für die wiederum eine Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und der offiziellen Parteipolitik charakteristisch ist. »Insgesamt ist eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse zu registrieren. Sie fördert auch den Flexibilitätszwang, um aufzusteigen, zu sichern oder Abstiege zu verhindern. Führt diese Flexibilisierung nicht zum beruflichen Erfolg, hängt damit eine verstärkte Gewaltbilligung und -bereitschaft zusammen«, stellt die Studie fest.
Diese Ökonomisierung liquidiert das Bürgerliche, gleichwohl stützt sich der rücksichtslose Egoismus weiterhin auf Werte und Normen, die noch immer als »bürgerlich« klassifiziert werden. Die Studie spricht hier von »Entsolidarisierung und Abwertung im Namen der Gerechtigkeit«. Gerechtigkeit meint hier nur noch die regel- und rücksichtslose Durchsetzung individueller Interessen. Die Solidarität etwa für Ärmere aufzukündigen, erscheint gerechtfertigt.
So kommt die Studie zu dem Schluss, es mit dem »Problem einer rohen Bürgerlichkeit« zu tun zu haben. Die vermeintlichen gesellschaftlichen Eliten setzen sich nicht nur ökonomisch durch, sondern sie verfügen auch über die geeigneten Mittel, diese neue Mentalität über das Fernsehen, Zeitungen und das Internet in einen Konsens zu verwandeln. Man muss davon ausgehen, dass die zehn Elemente des »Syndroms gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« keine Abweichungen oder Ausnahmen darstellen, sondern zum Durchschnittsbewusstsein gehören wie etwa musikalische oder kulinarische Vorlieben, Freizeitinteressen, das Sexualverhalten, Weltanschauungen oder der Aberglaube.
Die Ideologieproduzenten, die den »Solidaritätseinbruch« im Fernsehen und anderenorts befördern, werden in der Studie zwar nicht erwähnt, sind aber bekannt: Peter Sloterdijk und Thilo Sarrazin verbreiten ihre Ansichten unverblümt. Anne Will, Günther Jauch, Katia Saalfrank und anderen obliegt es, die »deutliche Vereisung des sozialen Klimas« mit einer gewissen menschelnden Wärme zu vermitteln. Zugleich exerzieren sie vor, inwiefern die »rohe Bürgerlichkeit« nicht »als Status, sondern als Haltung« zu verstehen ist: Sie ist nicht exklusiv, sondern soll auch von den unteren Schichten übernommen werden, denen die Abwertung eigentlich gilt. Wie gut das funktioniert, macht sich etwa darin bemerkbar, dass bislang kein nennenswerter Widerstand gegen die Verschlechterung des Gesundheitssystems oder gegen Hartz IV entstanden ist.

Hier zeigt sich ein weiteres entscheidendes Element dieser neuen deutschen Mentalität, nämlich ihre reflexive Passivität, für die das Motto gilt: »Ich mache doch gar nichts, ich sage doch bloß!« Auch wenn in der Studie eine signifikante Zunahme der »aggressiven Stimmung« ermittelt wird – »rund 34 Prozent sind zornig« –, äußern sich diese Aggressionen offensichtlich in einer Zurückhaltung, als passives Ressentiment. Zugleich sind die Attacken auf vermeintliche Gegner oder Feinde sehr unspezifisch, variabel und konfus: Es trifft »die Frauen«, »die Faulen«, »die Sozial­schma­rotzer« oder »die Ausländer« allgemein und zusammenhanglos, das heißt ohne jede Notwendigkeit einer rationalisierten Begründung. Darüber hinaus werden auch hier keine verbindlichen, politischen Standpunkte geäußert, die politische Position bleibt nur eine eigene Meinung.
Passivität meint aber nicht Paralyse, sondern beschreibt einen Handlungsmodus, den Herbert Marcuse für die NS-Gesellschaft als »psychologische Neutralität« zusammengefasst hat: »Die Menschen hassen nicht, noch lassen sie sich von leidenschaftlicher Begeisterung und Entschlossenheit fortreißen, vielmehr ist ihre Haltung durch Sachlichkeit und Gleichgültigkeit bestimmt.« Derzeit gilt ein ähnliches Prinzip: mitmachen, obwohl man sofort beteuern könnte, nicht einverstanden zu sein und eigentlich nicht mitmachen zu wollen. Individuell wiederholt sich der Massenkonformismus im »Wegsehen«. Wegsehen ist die akzeptable Form von unterlassener Hilfeleistung und gehört zur Bagatellisierung von Gewalt. Eingreifendes Handeln wird entweder den Sicherheitsdiensten überlassen oder als voluntaristisches Hilfsversprechen anderen Personen oder Institutionen überantwortet. So wirbt der Hamburger Verkehrsverbund derzeit mit dem Slogan: »Ich drück’ für dich … den Notruf, wenn’s brenzlig wird.«
Die Passivität findet sich auch im ambivalenten Verhältnis zur Politik. Die Studie diagnostiziert bei den Besser- und Höherverdienenden eine »Demokratieentleerung« und ein »gestörtes Verhältnis zur regierenden Politik«. Nichtsdestotrotz wird von den vermeintlichen Eliten mit Volksentscheiden und Demonstrationen wie etwa gegen die Schulreform in Hamburg und dem zugehörigen medialen Spektakel eine außerparlamentarische Form des Politischen inszeniert, die als neu bewertet werden muss: »Das Politische« ist zwar noch immer der Kitt, der die Gesellschaft als solche zusammenhält, es verschränkt sich aber mit einem konformen Individualismus. Damit kommt es zu der Situation, dass der Staat zwar das Gewaltmonopol behält, die Gewalt auf individueller Ebene jedoch kulturell, ideologisch und »lebensweltlich« in einer neuen Unmittelbarkeit wie beispielsweise dem Mobbing vorgeführt wird.

Der ohnehin kursierende Vergleich zur Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre drängt sich anhand der Ergebnisse der Studie auf. Wie die Jahre 1924 bis 1928 bedeuteten auch die Jahre 2003 bis 2008 eine Rückkehr zur »Normalität«. Dazu gehörte die Restituierung der »bereits erschütterten Kontinuitätsannahme in der Bevölkerung«, nämlich die »Hoffnung, dass endlich einmal alles so bleiben möge, wie es ist, ein Bedürfnis nach Ruhe, nach stationären Zuständen«, wie es Peter Brückner für den Sozialcharakter der Weimarer Republik formulierte.
Waren es aber damals vor allem die Subalternen und eine im sozialen Aufstieg sich wähnende Angestelltenschicht, deren Sozialcharakter derart geprägt war, so ist es heute ein in seiner ökonomischen Klassenposition völlig verunsichertes Bürgertum. Dieses Bürgertum kann sich für die Bestimmung seines sozialen Status, also seiner repräsentativen Herrschaftsposition, nur noch auf vage Formen des symbolischen oder kulturellen Kapitals verlassen ; und auch dieses Kapital unterliegt Distinktionsverlusten statt Distinktionsgewinnen, zumal das Risiko des materiellen Abstiegs weiter besteht: Mit der Verrohung der Bürgerlichkeit verlieren auch die Reste der bürgerlichen Kultur ihre normative Verbindlichkeit; dasselbe gilt für »Bildung«, »Anstand« und »Manieren«. Derzeit machen also die besserverdienenden Angestellten mobil.