Die Regierungskrise in Belgien

200 Tage Einsamkeit

Seit mehr als einem halben Jahr hat Belgien keine Regierung mehr, nun gefährdet auch die Euro-Krise die Stabilität des Landes. Wird Belgien zum ersten gescheiterten Staat der EU?

»Wie Belgien zerbröselt« – »Unheilbarer Patient?« – »Belgien ohne Regierung: Eine unendliche Krise«. Dies sind nur einige der Schlagzeilen, mit denen deutschsprachige Medien vergangene Woche ihre Berichterstattung über Belgien betitelten. Soeben war erneut ein Vermittler, der flämische Sozialdemokrat Johan Vande Lanotte, an der Aufgabe gescheitert, eine Regierung zu bilden. In der ersten Woche des neuen Jahres war der Zeiger, der seit den Parlamentswahlen im Juni die Tage bis zu einem erfolgreichen Abschluss der Koalitionsgespräche zählt, auf 209 gesprungen, ein neuer Europa-Rekord. Ende März wäre der Weltrekord fällig, den bislang der Irak hält.

An derlei Kuriositäten liegt es freilich nicht, dass die kommenden Wochen für die politische Zukunft des Landes entscheidend werden könnten. Vielmehr ist es die Angst vor einem Übergreifen der Eurokrise, die Belgien erfasst hat. Das Haushaltsdefizit für 2010 wird zwar auf 4,8 Prozent veranschlagt, was deutlich unter den Werten Griechenlands oder Irlands liegt. Doch die Staatsverschuldung beträgt inzwischen 97,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Im Dezember bezeich­nete die Rating-Agentur Standard & Poor’s die »anhaltende innenpolitische Unsicherheit« als Risiko für die Kreditwürdigkeit Belgiens. Sie korrigierte ihre Bonitäts-Prognose von »stabil« zu »negativ« und drohte mit einer Herabstufung im kommenden halben Jahr, sollte sich die Koalitionsbildung noch weiter verzögern. Der im April zurückgetretene Premierminister Yves Leterme, der seither kommissarisch die Regierungsgeschäfte führt, hat kein Mandat für das Sparprogramm, das die Gläubiger erwarten.
Weil König Albert II. auch keine andere Lösung mehr einfällt, überredete er den just zurückgetretenen Vande Lanotte, sich ein weiteres Mal als Mediator zu versuchen. Schon als er im Spätherbst seine Mission antrat, galt der ehemalige Minister als letzte Hoffnung. Als Flame und Sozialdemokrat schien er prädestiniert, die entgegengesetzten Kräfte zu vereinen, die im Juni die Parlamentswahlen gewonnen hatten.
In der nördlichen Landeshälfte dominiert die konservative Neu-Flämische Allianz (N-VA), die aus ihren Sezessionsgelüsten kein Geheimnis macht, ähnlich deutlich wie im Süden die Parti Socialiste (PS). Wie alle anderen Parteien treten sie nur innerhalb Flanderns oder der Wallonie an. Landesweit antretende Parteien gibt es in Bel­gien seit den siebziger Jahren nicht mehr.
Unter Einbeziehung der Parteivorsitzenden Bart de Wever (N-VA) und Elio di Rupo (PS), die ­jeweils einmal als Vermittler scheiterten, soll nun das Unmögliche gelingen: eine Regierung aus den beiden Wahlsiegern, den flämischen Christdemokraten CD&V, der frankophonen CDH, den flämischen Sozialdemokraten (SP.A) sowie den beiden grünen Parteien (Ecolo und ­Groen) zu bilden.
Weit schwerer als die ideologischen Unterschiede wiegen die Konflikte zwischen den Sprachgruppen. Während alle flämischen Parteien mehr Macht für die Regionen Flandern, Wallonie und Brüssel fordern, wollen die frankophonen am liebsten das bisherige föderale Modell erhalten. Besonders umstritten sind der interne Finanzausgleich, in dessen Rahmen jährlich rund zehn Milliarden Euro vom Norden in den Süden trans­feriert werden, sowie die Steuer- und Sozialpolitik. Vor allem letztgenannte ist in der deutlich ärmeren Wallonie ein Tabu.

Diese Konstellation herrscht in der belgischen Politik seit dreieinhalb Jahren. Während die komplexen Mechanismen, die das Gleichgewicht zwischen beiden Sprachgruppen erhalten, sich mehr und mehr auflösen, scheint im Ausland die Sache deutlich. Seit langem kolportieren internationale Medien, dass Belgien keine Zukunft habe.
Das Land wird von vielen als todgeweiht angesehen, was auch mit seinem Image als mehrsprachiges Königreich zu tun hat. Belgien gilt als politisches Kuriosum. Man nimmt es als chaotisches »nördlichstes Land Südeuropas« wahr, wähnt den Süden korrupt und den Norden rechtsextrem. Für letztgenanntes ist das Aufkommen des Vlaams Belang verantwortlich. Manche finden belgische Comics sympathisch, andere ­mögen das französisch inspirierte savoir vivre, doch ernst genommen wird Belgien selten.

Über einen Zerfall spekulieren in diesen Wochen nicht nur Journalisten. Auch zahlreiche Kommentare im Netz propagieren eine naheliegende Lösung: zu teilen, was vermeintlich ohnehin nie zusammengehörte. Demnach bietet sich der Anschluss Flanderns an die Niederlande ebenso an wie derjenige der Wallonie an Frankreich. Die winzige Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) im Osten des Landes könnte wieder zu Deutschland gehören oder aber zu Luxemburg. Diese ganz selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung von Sprachgruppen und Nationalstaat stellt auch den Prozess europäischer Integration in Frage. Schließlich wird das multilinguale EU-Gastgeberland oft als symbolisch für diesen Prozess gesehen.
Der Umkehrschluss beinhaltet einen Gedanken, der im Abgesang auf das Land oft untergeht: Taugt das unscheinbare Belgien mit seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt eigentlich als progressive Projektionsfläche? Der rabiate Kulturnationalismus, wie er charakteristisch für die flämische Bewegung ist, wird oft reflexhaft abgelehnt. Ist es darüber hinaus gar angebracht, sich mit Belgien zu solidarisieren, so wie dies regionale sezessionistische Bewegungen überall in Europa mit Flandern tun?
Zu bedenken gilt es, dass Belgien in dieser Hinsicht mehr Potential verschenkt denn nutzt: 1963 wurde das Land in feste Sprachgebiete ein­geteilt und durch eine verbindliche Sprachgrenze getrennt. Eine rigide Gesetzgebung regelt seither, in welcher Sprache sich die Menschen wo an die politischen und juristischen Autoritäten wenden können oder welche kulturellen Möglichkeiten Minderheiten im jeweils anderen Sprach­gebiet zustehen. Die Kopplung des Sprachgebrauchs an das Territorium ist damit das ­Gegenteil einer im ganzen Land gepflegten Mehrsprachigkeit, die über die Grenzen des Landes ­hinaus Signalwirkung haben könnte.
Neben der Skandalisierung der Medien könnte man sich höchstens die Frage stellen, ob Belgien als anarchistisches Modellprojekt taugt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dies jedoch als ­Illusion. Nicht nur, weil die kommissarische Regierung Yves Letermes nach wie vor im Amt ist. Die Regionalregierungen können das Machtvakuum auch deshalb füllen, weil sie seit 1970 schon zahlreiche Befungnisse haben, die früher dem Einheitsstaat oblagen.