Minderjähriger Angeklagter im Piraten-Prozess muss in Haft bleiben

Jugend schützt vor Strafe nicht

Wegen der mangelhaften Spurensicherung dürfte es im Hamburger Piraten-Prozess schwer werden, die individuelle Tatbeteiligung der Angeklagten nachzuweisen. EinSomalier wird trotz seiner Minderjährigkeit nicht aus der Untersuchungshaft entlassen.

Der Kopf neigt sich zur Seite, manchmal ertönt ein sanftes Schnarchen. Den Justizvollzugsbeamten, der neben der Eingangstür sitzt, hat der Prozess gegen zehn mutmaßliche Piraten aus Somalia vor dem Hamburger Landgericht (Jungle World 48/10) ermüdet. Ein weiterer Justizvollzugsbeamter säubert sich die Fingernägel. Kreuzworträtsel werden gelöst, auf einem Stuhl liegt der Groschenwestern »Männer im Kampf um Recht und Freiheit: Bitter war sein Ruhm«.

Der Richter Bernd Steinmetz verliest die Asservatenliste mit Abkürzungen und Nummern: »Fünf AK 47, zwei Pistolen, zwei Raketenwerfer, zwei Messer, davon eines beidseitig scharf.« Ein Dolmetscher übersetzt die Ausführungen für die Angeklagten, die mit Kopfhörern zwischen ihren 20 Anwälten sitzen, ins Somalische. Die Bankreihen für die Presse sind fast leer. Das Interesse an dem Prozess ist kleiner geworden. Dabei saßen zum Auftakt des Verfahrens im November etwa 40 Journalisten im Saal, die Zuschauerbänke waren gefüllt.
Die Angeklagten stehen wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor Gericht. Ihnen drohen 15 Jahre Haft. Sie sollen im April 2010 das Containerschiff »Taipan« gekapert haben. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich in einem sicheren Bereich des Schiffs verschanzt und einen Notruf abgegeben, als der Angriff erfolgt war.
Mittlerweile ist auch der Öffentlichkeit bekannt, dass die Befreiung nicht unter EU-Mandat, sondern unter niederländischer Führung ablief, da sich das Kriegsschiff »Tromp« der niederländischen Marine nach Aussagen der Besatzung außerhalb des Gebiets aufhielt, auf das die Operation Atalanta, der Antipiraterie-Einsatz der EU, beschränkt ist. Allerdings habe man sich von »deutschen Stellen« ein »Go« geben lassen. Welche Behörden genau die Entscheidung trafen, ob die Bundeswehr, das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei oder der Bundesnachrichtendienst, ist weiterhin unklar.
Bislang hat die Kammer vor allem die für die Altersgutachten zuständigen Sachverständigen befragt. Diese hatten drei junge Angeklagte älter geschätzt, als sie selbst angegeben hatten, unter anderem einen noch nicht strafmündigen 13jährigen, der eine Geburtsurkunde und eine Schulbescheinigung vorweisen kann. Auch ein BKA-Beamter aus Berlin, der im Auftrag der Hamburger Staatsanwaltschaft die Ermittlungen vor Ort führen sollte, und Dierk Eggers, der Kapitän der »Taipan«, wurden als Zeugen vernommen. »Der bedrohlichste Moment war der Beschuss der Brücke«, erinnerte sich Eggers. »Es bestand Lebensgefahr, die Kugeln gingen durch das Metall wie durch Butter.«

Der Richter arbeitet sorgfältig – sicher auch, damit dieser Prozess nicht wegen Verfahrensfehlern in Frage gestellt werden kann. Er ist freundlich, es gibt Pausen auf Wunsch der Angeklagten, Zweifel in der Übersetzung werden geklärt, Fachbegriffe und juristische Vorgänge erläutert. Wenn es allerdings darauf ankommt, dann regiert die harte Hand: Die Kammer hat bislang fast alle Anträge der Verteidigung abgewiesen. Ende Januar wird deutlich, dass sie auf eine Verurteilung hinarbeiten dürfte. Der Richter lehnt es ab, einen nach eigenen Angaben 1994 geborenen und zur Tatzeit 15jährigen, aber in umstrittenen Altersgutachten auf mindestens 17 Jahre geschätzten Somalier aus der Untersuchungshaft zu entlassen, in der er schon fast ein Jahr lang sitzt. »Er hat eine empfindliche Jugendstrafe zu erwarten«, sagt Steinmetz zur Begründung. Der Tatverdacht sei dringend, da der Angeklagte eingestanden habe, für 500 Dollar als Steuermann geholfen zu haben. Er sei reif genug gewesen, das Unrecht der Tat einzusehen. Auch in Somalia sei Menschenraub ein Verstoß gegen das Recht.
Der Jugendliche nimmt die Kopfhörer von den Ohren und legt seinen Kopf auf den Tisch. Der Richter ermahnt ihn, er solle sich den Beschluss anhören, »auch wenn es schwerfällt«. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Fluchthelfer bereitstünden. Und die Gefährlichkeit eines Beschusses könne dem Somalier nicht verborgen geblieben sein, zumal er von seinen Erfahrungen in Mogadishu berichtet habe. »Du Arschloch!« ertönt es aus dem Zuschauerraum, der hinter einer Trennscheibe liegt. Der Richter liest unbeirrt weiter, er hat den Zwischenruf nicht gehört.
Am Ende seiner Begründung geht Steinmetz auch auf die Belastungen in der Haft ein, die er vor allem darin sehe, dass der Angeklagte von seinem sozialen Umfeld abgeschnitten sei. Dies sei aber auch bei einer Unterbringung in einer Jugendeinrichtung so, sagt der Richter. Im Saal ist es still. Manche Anwesende schauen sich an, schütteln den Kopf. Denn es ist nicht üblich, dass junge Angeklagte aus Hamburg so lange in Untersuchungshaft bleiben – selbst wenn es sich um Tötungsdelikte handelt. Drei bis sechs Monate Untersuchungshaft seien die Regel, sagt ein Verteidiger am Rande. Zudem sieht Steinmetz offensichtlich keinen erhöhten Hilfebedarf wegen der sozialen Isolation des nach Deutschland verfrachteten Somaliers, sondern einen Grund, den Jugendlichen gerade deswegen in Haft zu behalten. Darüber hinaus gab der Richter zu verstehen, dass er dem sehr umstrittenen Altersgutachten – und somit nicht dem Prinzip in dubio pro reo – folgen werde.
Die Argumentation der Kammer sei nicht nachvollziehbar, sagt der Verteidiger Rainer Pohlen. »Sie ist absolut nicht zu ertragen und zudem erzieherisch kontraindiziert.« Sein Mandant sei sehr mitgenommen von der Entscheidung. »Er hat das Gefühl, auf einem Abstellgleis zu stehen.«
Andere Verteidiger ärgern sich in den Pausen über das Vorgehen des Kollegen und darüber, dass der Angeklagte sich zur Sache geäußert hatte, was ihm zum Nachteil ausgelegt wurde. Tatsächlich dürfte es angesichts der im Prozess deutlich gewordenen mangelhaften Aufnahme und Sicherung der Spuren rund um die »Taipan« schwierig werden, das Ausmaß der jeweiligen Tatbeteiligung der einzelnen Männer nachzuweisen. Andere Anwälte sehen in der jüngsten Entscheidung des Gerichts, den Jugendlichen nicht aus der Untersuchungshaft zu entlassen, schlicht ein klares Signal dafür, was von der Kammer zu erwarten ist.

Noch immer nicht geklärt ist darüber hinaus die grundsätzliche Frage, wie mit Angeklagten zu verfahren ist, über die – bis auf den Jüngsten – keinerlei Dokumente vorliegen, und auf welcher Rechtsgrundlage die Männer überhaupt festgehalten werden. Möglicherweise gebe es gar keine, sagt die Verteidigerin Gabriele Heinecke. So seien die Angeklagten nicht innerhalb von 48 Stunden nach ihrer Festnahme einem Haftrichter vorgestellt worden. »Diese Frist muss eingehalten werden. Sonst muss man sie freilassen.«
Hans Lodder, der Kapitän der »Tromp«, hatte betont, dass er die zehn Männer nur von einem »Vernehmungsort« zu einem anderen gebracht, sie aber nicht festgenommen habe. Juristen beschäftigt dabei die Frage, ob es in bestimmten Fällen legitim ist, mutmaßliche Kriminelle zu ver­urteilen, die vom Militär festgehalten wurden und wochenlang weder Kontakt zu einem Rechtsanwalt hatten noch einem Haftrichter vorgeführt wurden. Mittlerweile rechnen Anwälte deshalb damit, dass sich das Verfahren bis Mai hinziehen wird – Zeit für die Justizvollzugsbeamten, noch viele schlechte Western zu lesen.