Der »Tag der Nakba« und die Folgen für Israel

Generalprobe an der Grenze

Israel betrachtet die Grenzverletzungen auf den Golanhöhen durch propalästinensische Demonstranten als eine neue Form der Kriegsführung. Syrien und der Libanon bezichtigen das Land eines Massakers, Human Rights Watch fordert eine Untersuchung der Vorfälle.

Die Geschehnisse an den Grenzen Israels zu Syrien und dem Libanon am »Tag der Nakba«, die mit 15 toten Demonstranten und 13 verletzten israelischen Soldaten endeten, dürften für Israel nicht ohne Folgen bleiben. Unbewaffnete Zivilisten hatten unter anderem den Grenzzaun auf den Golanhöhen gewaltsam durchbrochen, um auf israelisches Gebiet vorzudringen. Die islamistische Hamas hatte im Norden des Gazastreifens offenbar Frauen und Kinder vorgeschickt, um den Grenzübergang in Erez zu überrennen. Unbewaffnete Zivilisten gelten im Völkerrecht als »geschützte Personen«, auf die nicht geschossen werden darf. Der Libanon und Syrien bezichtigen Israel deshalb, ein »Massaker an unschuldigen Zivilisten« verübt zu haben, während Israel im Vorgehen der Demonstranten eine neue Form der Kriegsführung sieht.

Dem syrischen Regime kamen die propalästinensischen Proteste vermutlich gelegen, um von den Massakern der syrischen Armee an der eigenen Zivilbevölkerung abzulenken, deshalb griffen syrische Soldaten nicht ein. Obwohl Israel vor Gewalt am Jahrestag seiner Staatsgründung gewarnt habe, hätten die syrischen und libanesischen Behörden »nichts getan, um ihrer Verantwortung nachzukommen«, sagte ein Sprecher des israelischen Außenministeriums vergangene Woche. Die israelische Regierung macht die beiden Nachbarländer verantwortlich für die Grenzverletzungen. Die Demonstranten hätten gegen internationale Verträge und UNO-Resolutionen verstoßen.
Im Völkerrecht gilt es nicht als ein Kriegsakt im herkömmlichen Sinn, wenn Zivilisten eine Staatsgrenze überrennen. Hätte es sich um bewaffnete Soldaten gehandelt, hätte Israel das volle Recht auf Selbstverteidigung gehabt. Nach den Vorfällen am Nakba-Tag stellt sich in Israel nun die Frage: Was tun, wenn Zivilisten, die einen politischen Anspruch auf Israels Territorium erheben, die Grenzen stürmen? Diese Demonstranten können nicht mit Flüchtlingen aus dem Sudan oder Eritrea verglichen werden, die sich durch den Sinai nach Israel durchschlagen, um Arbeit oder Asyl zu finden. Sie können auch nicht mit den Flüchtlingen aus Tunesien oder Libyen gleichgesetzt werden, die in Lampedusa landen.
Vergleichbar sind die Grenzerstürmungen aber mit den Aktionen der »Freedom Flotilla« und der teilweise gewalttätigen »Friedensaktivisten« , die die Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollen, zumal Israel durch die Osloer Verträge verpflichtet ist, die Seegrenze des Gazastreifens zu kontrollieren, um Waffenschmuggel zu unterbinden.

Im Falle Syriens ist mittlerweile klar, dass das Regime den Sturm auf die Grenze nicht nur zugelassen, sondern vermutlich veranlasst hat. In einem totalitären Regime wie in Syrien ist es undenkbar, dass tausende Menschen ohne Genehmigung ungehindert in ein streng bewachtes militärisches Sperrgebiet eindringen. Unklar ist, ob auch Uno-Beobachter weggeschaut und geschwiegen haben. Presseanfragen beim Hauptquartier der Uno-Beobachtungstruppe Undof in Jerusalem, der UN-Mission, die die Grenze zwischen Israel und Syrien überwacht, wurden abgewiesen. Die Unifil, die seit dem Libanonkrieg im Jahr 2006 für die Sicherung der libanesisch-israelischen Grenze verantwortlich ist, erklärte sich für »zivile Angelegenheiten nicht zuständig«.
Im Libanon wurden mit Bussen rund 50 000 palästinensische Flüchtlinge aus Aim al-Hilwe, Raschidije und anderen Lagern nach Maroun A-Ras gekarrt, um am »Tag der Nakba« gegen Israel zu demonstrieren. Einige Dutzend, überwiegend junge Männer, rückten in Richtung der Grenze vor. Während die syrische Armee auf den Golanhöhen wie vom Erdboden verschluckt blieb, griff die libanesische Armee ein und versuchte, die Demon­stranten vom Grenzzaun fernzuhalten. Libanesische Soldaten schossen ebenso wie israelische, sodass unklar ist, wer die demonstrierenden Palästinenser traf.
Auf Anfrage sagte der israelische Armeesprecher, an der Grenze zwischen Israel und Syrien auf den Golanhöhen sei es seit dem von Henry Kissinger ausgehandelten Entflechtungsabkommen nach dem Jom Kippur-Krieg von 1973 fast 40 Jahre lang ruhig geblieben. Der israelische Geheimdienst und das Militär hätten von den über Facebook verbreiteten Aufrufen zum Sturm auf die Grenze gewusst. Gleichwohl wurden keine Truppen zusammengezogen. Die israelische Armeeführung vertraute darauf, dass Syrien keinen Grenzkonflikt mit ungewissem Ausgang zulassen würde. »Auf unserer Seite gab es eine falsche Einschätzung der syrischen Absichten«, sagte der Sprecher. Deshalb hätten sich nur wenige Soldaten nahe der Grenze aufgehalten, als hunderte Palästinenser kamen, den Grenzzaun zerstörten und bis ins drusische Dorf Madschdal Schams liefen. Dort demonstrierten sie, zeigten syrische und palästinensische Flaggen und sogar das Por­trät des syrischen Diktators Bashar al-Assad. Nach einigen Stunden kehrten die meisten wieder nach Syrien zurück. Einem jungen Syrer gelang es, sich bis nach Tel Aviv durchzuschlagen, weil er seine Heimatstadt Jaffo besuchen wollte. Die Finger zum Siegeszeichen gespreizt, stellte er sich vor laufenden Kameras der Polizei. Ein weiterer Syrer wurde zusammen mit einem arabischen Taxifahrer aus Ostjerusalem an einer Straßensperre verhaftet. Am vergangenen Wochenende hat die israelische Armee auf den Golanhöhen ihre Truppen verstärkt, um eine weitere Eskalation zu verhindern.

Mittlerweile hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) Israel aufgefordert, eine sofortige Untersuchung der Todesfälle an den Grenzen zum Libanon und zu Syrien einzuleiten. »Gemäß einem üblichen Schema reagieren israelische Truppen mit scharfer Munition auf Steine werfende Jugendliche«, behauptete Sarah Lea Whitson von HRW. Ein israelischer Militärsprecher präzisierte, dass die israelischen Soldaten erst Warnschüsse und dann Schüsse auf die Beine abgegeben hätten. Nur im Fall akuter Lebensgefahr sei es ihnen erlaubt gewesen, scharfe Schüsse abzugeben. Der Sprecher erwähnte in dem Zusammenhang die 13 verletzten israelischen Soldaten, darunter einen Divisionskommandeur, der durch einen Stein im Gesicht verwundet worden sei.
HRW hat Syrien und den Libanon nicht aufgefordert zu erklären, warum die Leben gefährdende Provokation zugelassen wurde. Diese war offensichtlich darauf angelegt, Israel in eine ausweglose Lage zu bringen. Ganz neu ist diese Situation nicht. Unter der Regierung von Ariel Sharon wurde 2004 das Begräbnis Jassir Arafats auf dem Tempelberg in Jerusalem untersagt, weil man befürchtete, dass tausende Palästinenser aus den Autonomiegebieten versuchen könnten, nach Jerusalem zu kommen. Israel hätte auch damals über keine anderen Mittel als militärische verfügt, derartige Menschenmassen aufzuhalten.
Nun wird befürchtet, die Grenzverletzungen könnten nur ein Probelauf für den September gewesen sein, wenn die Palästinenser bei der Uno die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 einfordern wollen. Dann könnten 4,8 Millionen palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon, Syrien, Jordanien, dem Gazastreifen und dem Westjordanland versuchen, Israel zu überrennen, um ihr »Rückkehrrecht« einzufordern.