Jane Schuch im Gespräch über die Lage von Sinti und Roma in Deutschland

»Eine subtilere Form von Ausgrenzung«

Fast 40 Prozent der über 51jährigen Sinti und Roma in Deutschland haben niemals eine Grundschule besucht. Die alltägliche Diskriminierung und das kollektive Trauma, das die Verfolgung durch die Nationalsozialisten hinterlassen hat, verringern die Teilhabe an der Bildung für die Minderheit erheblich. Die deutschen Sinti und Roma leiden unter einer Bildungsmisere – das ist das Fazit einer von der Organisation Romno Kher geleiteten Studie, in der Sinti und Roma ihre eigene Bildungssituation erforscht haben. Die Jungle World sprach mit Jane Schuch, Mitautorin der Untersuchung und Diplompädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.

Einer der für die Studie Befragten, ein 20 Jahre alter Sinto, hörte nach seinen Angaben von seiner Hauptschullehrerin: »Der Hitler hat es manchmal richtig gemacht mit euch.« Machen Sinti und Roma häufig solche Erfahrungen an staatlichen Schulen?
Es gibt dramatische Erfahrungen von Sinti und Roma im bundesrepublikanischen Bildungssystem. Die Befragten hörten von Mitschülerinnen und Mitschülern Sätze wie: »Neben einem Zigeuner darf ich nicht sitzen.« Oder: »Zigeuner stinken.« Das ging bis hin zu der Aussage: »Dich hat man vergessen zu vergasen.« Noch schockierender waren für uns Aussprüche einzelner Lehrer­innen und Lehrer wie: »Du bist Zigeuner, aus dir wird sowieso nichts.« Bis hin zu dem von Ihnen zitierten Satz.
Allerdings kommt der so offen artikulierte Anti­ziganismus in der Schule und während der Ausbildung heute nicht mehr so häufig vor wie früher. Das Phänomen bleibt jedoch aktuell, äußert sich nun oft in einer subtileren Form von Ausgrenzung. Die Befragten beschreiben es als Gefühl von Ablehnung, Andersbehandlung oder Ignoranz.
Wie gehen die Kinder damit um?
Für die Kinder ist immer präsent, dass sie einer Minderheit angehören, die von einem gesellschaftlich noch immer nicht konsequent geächteten Antiziganismus betroffen ist. Konkreter: Wenn sie sich zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit bekennen, werden sie fast immer als »Zigeuner« stigmatisiert. Ist ihre Zugehörigkeit nicht bekannt, berichten sie von starken inneren Konflikten. Denn das »Zigeuner«-Stereotyp gehört zumeist völlig unreflektiert immer noch zum bundesrepublikanischen Bildungskanon.
Die Studie weist ausdrücklich auf die soziale Vererbung von Bildungsarmut hin. Durch diese Weitergabe wäre die Situation von Sinti und Roma im deutschen Schulsystem aber keine Besonderheit.
Das Problem der Weitergabe von Bildungsdefiziten in die nächsten Generationen trifft selbstverständlich auch auf andere Gruppen zu. Aber die Gründe bei Sinti und Roma sind sehr spezifisch. In dem Geflecht von Ursachen für die Bildungsmisere lassen sich unter anderem die nicht ausreichende familiäre Unterstützung und vor allem die intergenerationellen Folgen der Verfolgung im Nationalsozialismus ausmachen, von der ausnahmslos alle 275 Befragten betroffen sind. Im Nationalsozialismus wurden Sinti- oder Roma-Kinder von der Schule ausgeschlossen oder direkt aus den Schulen heraus in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Dies lebt im kollektiven Gedächtnis der Minderheit weiter und führt zum Teil zu massiven Ängsten.
Sie haben die Studie der Kinderkommission des deutschen Bundestags übergeben. Wie fiel die Reaktion aus?
Aus meiner Sicht sehr positiv. Marlene Rupprecht, die Vorsitzende der Kommission, hat die Absicht der Kinderkommision und auch ihren persönlichen Willen bekundet, hier aktiv zu werden und politische Maßnahmen zur gleichberechtigten Teilhabe hin zur Chancengleichheit voranzutreiben.
In den Verhandlungen um eine Rahmenstrategie für Sinti und Roma hat die Bundesregierung aber abgeblockt: Roma seien in Deutschland gut integriert, deshalb seien verbindliche Maßnahmen nicht notwendig.
Vor dem Hintergrund unserer Studie hat die Regierung starke Probleme, diesen Standpunkt weiter zu vertreten. Relativ gesehen, ist die gesellschaftliche Situation besser als in Rumänien oder der Slowakei, und momentan hat der Antiziganismus nicht die Dimensionen wie in Italien oder Frankreich. Trotzdem kann man gesellschaftliche Zustände nicht einfach gegeneinander ausspielen. Die Herstellung von Chancengleichheit ist ein Grundrecht, das jedem Menschen zusteht, auch im deutschen Bildungssystem.
In Anführungszeichen widmet sich die Studie dem »Auf Reise Gehen« und fragt, ob die Nichtsesshaftigkeit nicht Einfluss auf den Misserfolg in der Schule nehme. Greift die Untersuchung damit nicht selbst eine überkommene und nur noch stereotyp zugewiesene Fragestellung auf?
Neben den familiären und individuellen Bildungswegen der Befragten wurden auch Aspekte der Lebenswelt von Sinti und Roma thematisiert. Dazu gehört oder gehörte für viele Familien das Ausüben eines mobilen Gewerbes. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist von Interesse, ob und wie sich diese Lebenstatsache auf die Bildungssituation der Familien auswirkte und auswirkt. Und von Bedeutung ist das gerade deshalb, weil es ein oft geäußertes Vorurteil im Hinblick auf den Schulerfolg der Betroffenen ist. Wir konnten jedoch keine evidenten, bildungsbiographischen Zusammenhänge feststellen. Hier plagt sich vor allem die Mehrheitsgesellschaft mit ihren Klischees.
Welche Maßnahmen könnten die von Ihnen festgestellte Bildungsmisere abwenden?
Wichtig ist es, Sinti und Roma selbst einzubeziehen. Mit der Studie widmeten sich Teile der Minderheit diesem Thema selbstbestimmt und aktiv. Doch auch die Mehrheitsgesellschaft ist in der Pflicht. Eine nachhaltige Bildungsförderung von Sinti und Roma sollte auch eine Schulkultur etablieren, die professionell auf jegliche Form von Diskriminierung – und darin schließe ich ausdrücklich den alltäglichen Antiziganismus ein – reagiert und nicht zulässt, dass Kinder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit stigmatisiert werden.
Ungarn ist im Allgemeinen alles andere als ein Vorbild für die Bildungsteilhabe von Roma. Doch in der Stadt Pécs gibt es das Gandhi-Gymnasium, eine Elite-Schule für ausgewählte Roma-Kinder. Wäre das auch ein wünschenswerter Ansatz für das deutsche Bildungssystem?
Diese Frage berührt eine heikle Thematik: Segregation versus Integration. Das ist bildungspolitisch ein heißes Eisen und minderheitenpolitisch sowieso. Unsere Studie hat auch Diskussionsprozesse innerhalb der Minderheit angestoßen, diese gilt es zunächst abzuwarten. Wichtig ist, dass die Chancengleichheit von Sinti und Roma auf die bildungspolitische Agenda gesetzt wird.