In Ägypten wird weiter gegen das Militär protestiert

Der Finger des Generals

Die ägyptische Regierung hat der Demokratiebewegung Zugeständnisse gemacht, doch viele Protestierende befürchten nun härtere Repressionen.

Unsicherheit ist das vorherrschende Gefühl unter den Protestierenden, die weiterhin auf der Straße sind, seit Ende Juni eine neue Welle von Aufständen begonnen hat. Unsicherheit scheint aber auch das vorherrschende Gefühl unter den Regierenden zu sein, den zivilen Kabinettsmitgliedern ebenso wie den Offizieren des Obersten Militärrats (SCAF). Der Ausgang der »zweiten Revolution« mag am Ende von Zufällen, scheinbaren Nebensächlichkeiten und diffusen Stimmungen abhängen. Ihn vorherzusagen, traut sich derzeit niemand mehr.
Immerhin hat die Demokratiebewegung bereits einige Erfolge errungen. Die Machthaber sehen sich zu Zugeständnisse gezwungen. Diese werden von den Protestierenden zwar als unzureichend empfunden, doch auch die Regierung weiß, dass sie nicht mehr wie zuvor mit Lügen und Versprechungen durchkommen wird. Es gibt jetzt Millionen Menschen, die jedes Wort und jede Tat der Regierung verfolgen und bereit sind, für ihre Forderungen zu kämpfen. »Wir betteln nicht, wir weisen an«, steht auf einem Plakat auf dem Tahrir-Platz.
Seit am 28. Juni in Kairo spontane Proteste stattfanden und am 8. Juli wieder Millionen Menschen auf der Straße waren, gibt es sie wieder, die zentralen Orte, die Zentren politischer Aktion. Dort kommen Menschen zusammen, die sonst Welten trennen. Das hat allen, die sich an der ersten Revolution im Januar und Februar beteiligt haben, so gefehlt, dass die ersten Nächte im neuen Camp auf dem Tahrir-Platz etwas Rauschhaftes hatten, die Menschen strahlten, fielen sich in die Arme und sagten immer wieder: »Wie während der ersten Revolution!«
Vielleicht ist es dieser noch immer so starke Bezugspunkt, der dem Protest einen solchen Schwung gibt, dass die Regierung sich unfähig zeigt, auch nur die passenden Worte zu finden, um darauf zu reagieren. Tagelang blieben ihre Repräsentanten stumm, man sah den Protesten zu. Und auch als die Regierung schließlich reagierte, war eine klare Linie nicht erkennbar.
Premierminister Essam Sharaf trat Montag voriger Woche vor die Presse und erklärte, er werde in Absprache mit dem herrschenden Militärrat SCAF zwölf Minister austauschen. »Sinnlos, sinnlos«, rief die Menge auf dem Tahrir-Platz, als die Nachricht von der Bühne herab verkündet wurde. Manche hielten, wie schon bei Hosni Mubaraks Rede, ihre Schuhe hoch. Die Lage, das wurde schnell klar, wird sich nur wegen dieses Zugeständnisses nicht beruhigen.
Am folgenden Tag meldete sich der SCAF mit einer seiner seltenen Videobotschaften selbst zu Wort. Die Generäle wollten sich als Hüter der Revolution darstellen und spielten mit den Erinnerungen an den Sturz Mubaraks. Als der Präsident im Februar zurücktrat, meldete sich wenig später General Mohsen al-Fangary per Video mit dem »Statement Nr. 1« des nun herrschenden Militärs zu Wort und salutierte der Revolution und ihren »Märtyrern«. Das machte ihn unter den Ägyptern sehr beliebt, sein Bild wird überall rund um den Tahrir-Platz verkauft und ist auf vielen Websites zu sehen.

Nun stand derselbe General Fangary erneut vor der Kamera, doch diesmal war sein Ton scharf und aggressiv, und während er den Protestierenden drohte, fuchtelte er wild mit seinem Zeigefinger vor der Kamera umher. Die Videobotschaft hatte weitreichende Folgen – allerdings andere, als sich der SCAF wohl erhofft hatte. In den Camps herrschten im ersten Moment Anspannung und Schrecken, die meisten erwarteten nach diesen Worten einen baldigen Angriff und bereiteten sich auf die Stürmung des Platzes vor.
Doch dann geschah etwas, das selbst die Protestierenden nicht erwartet hatten. Kurz nach dem Statement strömten immer mehr Menschen auf den Platz, am Abend war die Beteiligung an den Besetzungen größer als je zuvor während der »zweiten Revolution«. Zu brüsk waren Ton und Gestik des Generals, zu ähnlich war seine Rede den Erklärungen der verhassten Mubarak-Regierung. Die Aktivisten sahen staunend zu – und begannen zu lachen. »Ich glaube, dass das Militär durchaus vorhatte, die Proteste anzugreifen und gewaltsam zu beenden«, sagt Karim, ein Aktivist. »Aber nachdem mehr und mehr Leute auf den Platz kamen, um die Proteste zu unterstützen und gegen die SCAF-Politik Stellung zu beziehen, war das nicht mehr möglich.«
»Der Finger Fangarys« wurde rasch zum Lieblingsobjekt der Protestierenden, binnen kurzer Zeit entstanden zahllose Seiten auf Facebook, die meist eine eindeutige Botschaft verbreiten: Ihr zeigt uns diesen Finger, wir zeigen euch einen anderen. Eine Gruppe organisierte eine spontane Demonstration, deren Teilnehmer auf ihre erhobenen Finger Fangarys Namen gemalt hatten. Die Generäle waren gezwungen, ihre Strategie zu ändern. Noch am späten Abend gab der SCAF im Military Media Center die erste Pressekonferenz in seiner Geschichte, wobei die Offiziere sich große Mühe gaben, die desaströse Wirkung der vorherigen Botschaft abzuschwächen.
Wie der SCAF sich gegenüber den Protesten verhalten wird, bleibt dennoch weiterhin unklar. Quellen berichten, es gebe auch innerhalb des Offizierskorps Meinungsverschiedenheiten. Auch unter den Protestierenden gehen die Meinungen weit auseinander. »Beim letzten Mal hat das Regime auch bis zuletzt behauptet, es werde nie gehen«, sagt Eve, eine Aktivistin. »Und sie sind dann doch gegangen.« Ahmed, ein anderer Teilnehmer der Proteste, ist sich nicht so sicher. »Das letzte Mal hat sich der Protest gegen die Regierung gerichtet, und das Militär hat die Regierung ausgetauscht. Aber jetzt richtet sich der Protest direkt gegen das Militär, das Zentrum der Macht. Die werden die Macht nicht so einfach abgeben.«
Zum ersten Mal seit rund 50 Jahren wendet sich ein großer Teil der Bevölkerung gegen das Militär. Wie sehr sich die Generäle schon jetzt bedrängt fühlen, zeigte nicht nur die Pressekonferenz. Das Militär kümmert sich nicht mehr um die bisherigen außenpolitischen Prinzipien und scheint sich derzeit nur auf den Kampf um die innenpolitische Macht zu konzentrieren. Darunter leidet insbesondere das Verhältnis zu den USA, von denen die ägyptische Armee jährlich 1,4 Milliarden Dollar erhält. Doch NGO aus den USA wurde kurzerhand verboten, weiterhin in Ägypten tätig zu sein.

Die Propaganda des Militärs ähnelt der des Mubarak-Regimes. Die Proteste werden in der Presse und in Erklärungen des SCAF weiterhin als vom Ausland bezahlt und organisiert dargestellt. Die Kampagne um den als Mossad-Spion verhafteten Amerikaner Ilan Grapel (Jungle World 25/11) wird fortgesetzt. Es gibt sogar neue Verdächtige, in Suez wurden vier weitere Amerikaner verhaftet, denen Spionage vorgeworfen wird. Protestierende haben beobachtet, wie sie den Kanal gefilmt haben, sie gefasst und dem Militär übergeben. Diese Episode zeigt deutlich, wie anfällig selbst auf Seiten der Revolutionäre viele Menschen für die Propaganda sind. Protestierende brüsteten sich noch tagelang damit, das Land besser vor Spionen schützen zu können als das Militär.
Derzeit schwanken Regierung und Militär zwischen Zugeständnissen und Drohungen. Noch ehe sie offiziell entlassen wurden, traten zahlreiche Minister zurück. Manche, wie der neue Kommunikationsminister Hazim Abdel Azim oder Gesundheitsminister Amr Helmi, standen auf Seiten der Revolution. Ihre Ernennung und die weiterer renommierter Persönlichkeiten wurde allgemein bejubelt. Andere Entscheidungen sorgten für Entsetzen. So soll etwa der verhasste Innenminister Mansour al-Essawy im Amt bleiben.
Die Kabinettsumbildung ist ein Zugeständnis an die Protestbewegung, doch wird weiterhin befürchtet, dass die Repression härter werden könnte. Die Grenzen hat das Militär schon vorige Woche deutlich gemacht, als in Suez Protestierende drohten, den Kanal zu besetzen. Die Armee griff hart ein und kündigte an, den Kanal um ­jeden Preis zu sichern.

Eine ganze Weile schien es so, als würde über die Zukunft der Revolution in Suez entschieden – während in Kairo friedlich gefeiert wurde, tobten dort Straßenschlachten. Doch das Militär zog sich schließlich zurück, offenbar wollten die Generäle eine weitere Eskalation vermeiden. Die Proteste in Suez ließen nach. Auf dem zentralen Arbeen-Platz, aber auch am Kanal wurde in den folgenden Tagen weiter demonstriert, das Militär ließ es geschehen, sicherte den ökonomisch wichtigsten Verkehrsweg Ägyptens aber mit einem gewaltigen Aufgebot und Stacheldraht.
Am Freitag vergangener Woche waren die Demonstrationen im ganzen Land weit kleiner als in der Woche zuvor. Am Samstag räumte die Mi­litärpolizei in zahlreichen kleineren Städten die besetzten Plätze, unter anderem in Luxor und Ismailiya. Eine Gruppe von Hungerstreikenden in Suez war schon zuvor von Polizisten mitgenommen und gefoltert worden. Auf dem Tahrir-Platz machte sich Unruhe breit. »Das ist eine Warnung«, sagte Hana.
Früher oder später, darin sind sich die meisten einig, werden die Militärs das Camp angreifen und räumen lassen, ob von Soldaten oder, wie schon einmal im März, mit Hilfe bezahlter Schlägertrupps, der baltagiya. »Wir müssen hierbleiben«, sagt Mustafa. »Solange es geht. Die Stimmung ist nicht mehr nett, es sind eine Menge seltsamer Leute hier ins Camp gekommen. Aber das ist noch immer unser Sit-in, und solange es geht, müssen wir den Platz halten.« Es ist unklar, ob das Militär eine so provokante Aktion wagen wird. Die meisten Soldaten sind Wehrpflichtige. Wenn die Generäle einen umfassenden Angriff auf die Protestbewegung anordnen, riskieren sie eine Befehlsverweigerung der jungen Soldaten, von denen viele mit der Revolution sympathisieren. Niemand weiß, ob eine solche Eskalation das Ende des Militärregimes oder das Ende der Revolution bedeuten würde.