Proteste in Spanien nach den Platzbesetzungen

Jedes Viertel ist eine revolutionäre Zelle

Die Protestbewegung in Spanien ist von den großen Plätzen in die Stadtviertel gezogen und konzentriert sich auf konkrete soziale Kämpfe. Nach wie vor will sie das System nicht abschaffen, sondern retten.

Die Zelte sind abgebaut, die Plätze leer. Die Protestcamps, die wochenlang Spaniens Innenstädte prägten, sind größtenteils verschwunden. Vor zwölf Wochen waren im Anschluss an Massen­demonstrationen in über 60 spanischen Städten zentrale Plätze besetzt und zu Zeltlagern der neuen Protestbewegung umfunktioniert worden. Democracia Real Ya (Echte Demokratie jetzt) und #spanishrevolution waren die Schlagworte dieser neuen Bewegung. Die Revolution hat erwartungsgemäß nicht stattgefunden, nun ist die Bewegung auch aus dem Stadtbild vorerst verschwunden. Viele Camps wurden bereits im Juni freiwillig aufgegeben, die letzten wurden Anfang Juli von der Polizei geräumt.
Die »Bewegung 15-M«, benannt nach dem 15. Mai, dem Tag der ersten Massenproteste, ist aber keineswegs an ihr Ende gelangt. Am 19. Juni, dem europäischen Aktionstag gegen den sogenannten Euro-Pakt, gingen in Spanien erneut bis zu eine Million Menschen auf die Straßen. Ende Juli nahm der »Marsch der Empörten« in Madrid mit einer Demonstration von mehreren Zehntausend Menschen seinen Abschluss. Zuvor waren Gruppen von Aktivisten einen Monat lang durch abgelegene Gebiete Spaniens gereist und hatten über 300 Dörfer besucht, um sich die Sorgen der Landbevölkerung anzuhören. Diese wurden in einem Manifest zusammengefasst, das dem Parlament übergeben wurde. Zur gleichen Zeit fand in der Hauptstadt das erste »Sozialforum der Bewegung 15-M« statt, auf dem 300 Teilnehmer aus ganz Spanien über die weitere Entwicklung der Protestbewegung diskutierten. Seitdem steht auch wieder ein kleines Camp in Madrid, diesmal am Prado.

Der Protest hat sich in den 80 Tagen seit seiner Entstehung merklich verändert, neben dem Internet dienen nun hauptsächlich Arbeitsgruppen und Stadtteilversammlungen der Koordination. Die Bewegung tritt dabei zunehmend lokal und zum Teil auch sehr unterschiedlich in Erscheinung. Als Mitte Juni im katalanischen Parlament die Verabschiedung zusätzlicher Sparmaßnahmen auf der Tagesordnung stand, blockierten mehrere Tausend Aktivisten die Zugänge zum Parlamentsgebäude. Über 30 Abgeordnete, unter ihnen auch Artur Mas, der Präsident der katalanischen Regionalregierung, mussten daraufhin mit Hubschraubern zur Sitzung gebracht werden. Politiker, die durch die Menge liefen, wurden verbal, zum Teil auch körperlich bedrängt. Medien und Politik nutzten den Vorfall aus, um die Bewegung ein weiteres Mal als »radikal« und »extremistisch« zu denunzieren. Ganz zu Unrecht, was sich schon daran zeigt, dass sich Sprecher der Bewegung 15-M sofort von der »Gewalt« distanzierten. Ganz friedlich demonstrierten hingegen vor zwei Wochen mehrere Hundert Menschen vor dem Regionalparlament in Sevilla. Anlass waren die Pläne der Stadtregierung, den Verkehr in der Innenstadt zu beschränken.
Der Schwerpunkt des dezentralisierten Protestes liegt derzeit bei den Aktivitäten gegen Zwangsräumungen. Die prekäre Lage der von der Wirtschaftskrise und den drastischen Sozialkürzungen gleichermaßen betroffenen Bevölkerung zeigt sich hier besonders deutlich. Im Schnitt finden derzeit täglich 173 Räumungen statt, somit verliert alle acht Minuten in Spanien jemand seine Wohnung. In den vergangenen vier Jahren wurden zwischen 300 000 und 500 000 Menschen vor ihre Tür gesetzt, da sie die Hypotheken nicht mehr bedienen konnten. Bereits 2009 gründeten Betroffene in Barcelona, wo der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum wegen des Tourismus und der Innenstadtaufwertung besonders hart ausgetragen wird, die erste Selbsthilfeorganisation, Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH).

Mittlerweile gibt es in fast jeder Stadt solche Initiativen, die nun auf die Solidarität sowie die Strukturen der Bewegung 15-M zurückgreifen können. Anstehende Räumungen werden auf den Websites der Bewegung bekanntgegeben, verbunden mit dem Aufruf, beim Räumungstermin an Ort und Stelle zu protestieren. Auf diese Weise konnten in den vergangenen Monaten über 60 desahucios (Zwangsräumungen) vorerst verhindert werden. Zuletzt vereitelten vergangene Woche 70 Personen im baskischen Vitoria erfolgreich den polizeilichen Rausschmiss einer 67jährigen aus ihrer Altstadtwohnung.
Aber nicht immer sind diese Solidaritätsaktionen erfolgreich, in Barcelona und Madrid endeten Proteste bereits mit Festnahmen und Dutzenden Verletzten. Immerhin hat der Ministerpräsident der Sozialistischen Arbeiterpartei (Psoe), José Luis Rodríguez Zapatero, Ende Juni in seiner Rede zur »Lage der Nation« angekündigt, dass der Lohnanteil, der nicht zur Bedienung der Hypothek einbehalten werden darf, von 641 auf 961 Euro erhöht werde. Wenn sich die Bewegung zukünftig auf solche konkreten sozialen Kämpfe konzen­triert, kann sie im Kleinen tatsächlich etwas erreichen. Sicherlich mehr, als wenn nur ihre Forderung nach einer Reform des Wahlsystems durchgesetzt würde.
Dieses Ziel steht ganz oben auf der Liste des »Minimalkonsenses«, einem sozialdemokratischen Forderungskatalog, der das Ergebnis der auf unzähligen Vollversammlungen diskutierten Zielsetzungen und Leitlinien zusammenfasst. Hier wird deutlich, dass der Protest vor allem Ausdruck enttäuschter, aber trotzdem überzeugter Demokraten angesichts der Krisenpolitik der Regierungspartei Psoe ist, die ursprünglich in linker republikanischer Tradition stand. Die Forderung nach einer Politik, die sich nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht nach denen der Märkte richtet, ist gerechtfertigt, aber zugleich naiv, wenn man sich, wie der Großteil der Bewegung, einer tiefergehenden Gesellschaftskritik verweigert und sowohl in der Form als auch im Inhalt jede Radikalität vehement ablehnt.
»Die spanische Revolution ging schon in ihren ersten Anfängen an dem Bestreben zugrunde, legitim und anständig zu sein.« Das schrieb Karl Marx 1854 als Korrespondent der Zeitung New York Daily Tribune über die revolutionären Bewegungen im Spanien des 19. Jahrhunderts. Diese Analyse trifft auch auf die heutige Situation zu. Selbst der Nobelpreisträger und linksliberale Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz war nach seinem Besuch bei der Bewegung über die fehlende Wut überrascht. »Sie sind nicht so empört oder verärgert, wie ich es wäre«, sagte er der Zeitung Publico. Auch wenn Sprüche wie »Das ist keine Krise, sondern das System« Standard seien, wollten die Protestierenden das System nicht zerstören, sondern Lösungen für die Probleme finden, sagte Stiglitz. Vielleicht liegt gerade hierin der Grund für die wachsende Zustimmung in der Bevölkerung. Umfragen zufolge hat mittlerweile die Mehrheit der Spanier Sympathien mit der Protestbewegung, auch die Kommentatoren der Zeitungen stellen sich zunehmend hinter die Proteste.
Die alle zwei Wochen erscheinende linke Zeitung Diagonal sieht in der Transformation eine »Konsolidierung der Bewegung« und spricht von einem »neuen politischen Akteur«. Diese hoffnungsvolle Sicht klingt ein wenig danach, dass die anfängliche, leicht naive Euphorie der Platzbesetzungen nun durch stabilere Strukturen und realpolitische Arbeit ersetzt wird. Die Geschichte sozialer Kämpfe hat aber schon oft gezeigt, dass deren Institutionalisierung meist auch ihr Ende bedeutet. Die »Empörten« diskutieren derzeit angeregt über zukünftige Formen der politischen Partizipation abseits von reinen Protestaktionen. Die immer wieder auftauchenden Gerüchte, Democracia Real Ya wolle eine Partei gründen, werden bisher vehement bestritten. Was aber nicht bedeutet, dass nicht doch Einzelne diesen Weg gehen werden. Die Partei Vereinigte Linke (IU) hat Vertretern der Bewegung bereits Listenplätze angeboten.
Die Frage, ob die Protestbewegung zukünftig auch parlamentarisch vertreten sein will, wird sich nun früher stellen als erwartet. Vergangene Woche hat Ministerpräsident Zapatero für den November vorgezogene Neuwahlen angekündigt. Offenbar will er angesichts der desaströsen Wahl- und Umfrageergebnisse für seine Partei Psoe nun in die Offensive gehen. Zapatero hatte bereits zuvor erklärt, nicht mehr kandidieren zu wollen, seine Amtszeit wäre aber erst im März 2012 vorbei. Bis dahin hätte er noch eine harte Zeit gehabt. Spanien hat mit über 20 Prozent noch immer die höchste Arbeitslosenquote in der EU. Zugleich nimmt der sogenannte Druck der Finanzmärkte weiter zu, am vergangenen Wochenende drohte die Ratingagentur Moody’s mit einer weiteren Herabstufung der Kreditwürdigkeit Spaniens.

Auch die Protestbewegung bringt Zapatero in Bedrängnis, schließlich sind deren Forderungen sehr nah an den Inhalten, die den politischen Charakter des Psoe ausmachten, bevor die Partei als Antwort auf die Krise den Sozialstaat abwickelte. Ein wenig Kalkül ist sicher auch dabei. Als Termin für die Neuwahlen wurde der 20. November festgelegt, der in Spanien als »20-N« große historische Bedeutung besitzt. Am 20. November 1975 starb General Franco, sein Tod leitete zugleich das Ende des faschistischen Regimes ein. Bis heute ist dieser Tag das wichtigste Datum der extremen Rechten in Spanien, die bei Gedenkveranstaltungen, Fackelmärschen und katholischen Messen ihren verstorbenen Diktator ehrt. Möglicherweise hofft der Psoe, dass viele Unentschlossene Hemmungen haben werden, an diesem bedeutungsvollen Tag ihr Kreuz bei der rechtskonservativen Volkspartei (PP) zu machen, die sowohl personell als auch inhaltlich in der Tradition des Franquismus steht. Zapatero bestritt ein solches Kalkül, für ihn sei der 20. November ein Tag »wie jeder andere«.
Der nächste große Termin für die Protestbewegung ist aber zunächst einmal der 15. Oktober. An diesem Tag will Democracia Real Ya die verschiedenen europäischen Protestbewegungen in Brüssel in einer Massendemonstration vereinen und ruft unter dem Motto »United for a global change« zu einem »weltweiten« Aktionstag auf. »Nichts kann die Kraft von Millionen Menschen aufhalten, wenn sie sich zu einem gemeinsamen Ziel zusammenschließen«, heißt es im dazugehörigen Aufruf. Worin dieses Ziel besteht, bleibt aber weiterhin unklar.