Arbeiter- und Freiheitslieder aus 150 Jahren auf CD

»Arbeiter, hörst du es nicht?«

Eine Compilation versammelt Arbeiter- und Freiheitslieder aus 150 Jahren.

Das deutsche Arbeiterlied hat keinen guten Ruf: Man denkt an Schalmeien- und Blasorchester, proletarische Marschmusik und alte Männer mit Klampfen, die sich vermeintlich besserer Zeiten erinnern. Häufig wird dabei der Zweck der Arbeitermusik vergessen. Vor allem war sie ein Agitationsmittel und, da Musik unmittelbar identitätsstiftend wirken kann, ein besonders wichtiges. Das Arbeiterlied sollte das Proletariat einen, dessen Sicht auf die Welt synchronisieren und auf den Feind einschwören. In brenzligen Situationen marschierte die Arbeiterklasse Seit’ an Seit’ zum Takt. Musikalisch unterscheiden sich Arbeiterlieder daher kaum von jener Musik, die das gegnerische Lager anstachelte. Es waren Märsche und Mitsinglieder, geschrieben für Blaskapellen, Chöre, Fanfaren, Schalmeien.
Der Berliner Musikhistoriker Jürgen Schebera hat für eine Compilation mehr als 280 Lieder aus der Zeit von 1844 bis 1990 zusammengetragen. »Dass nichts bleibt, wie es war! 150 Jahre Arbeiter- und Freiheitslieder« ist die bislang umfangreichste Sammlung zum Thema. 12 CDs umfasst die Auswahl, die Schebera gemeinsam Jürgen Hohn getroffen hat. Man findet eine große Zahl seltener Tondokumente, etwa Schellack-Einspielungen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Das Label Bear Family Records hat bei der Aufarbeitung ganze Arbeit geleistet, die ausführlichen Booklets zeigen Originalcover, Zeitdokumente und Notizen zur Entstehungsgeschichte der Lieder.
Das Liedgut wird mit viel Pathos vorgetragen. Die Liedtexte zeichnen die prekäre Situation des Proletariats nach, den Kampf um Rechte und gegen kapitalistische Ausbeutung, gegen Faschismus, Krieg und auch gegen die ehemaligen Genossen. Sie spiegeln die bewegte Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung – und ihr Scheitern.
Die erste CD (»Mann der Arbeit, aufgewacht!«) steigt im Jahr 1844 mit Liedern der Märzrevolution ein. »Das Blutgericht« ist ein Kampflied des schlesischen Weberaufstandes, eine der ersten Regungen des erwachenden Industrieproletariats: »Was kümmert’s euch, ob arme Leut’/Kartoffelschalen essen,/Wenn ihr nur könnt zu jeder Zeit/Den besten Braten fressen?« Die bittere Armut und der Klassengegensatz beherrschen aber nicht alle frühen Arbeiterlieder. Auch Spottlieder wie »Das Lied vom Bürgermeister Tschech« über das gescheiterte Attentat des Storkower Bürgermeisters auf den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. sind darunter. Darin heißt es: »Hatte je ein Mensch so’n Pech/Wie der Bürgermeister Tschech/Dass er diesen dicken Mann/Auf zwei Schritt nicht treffen kann?« Es zu singen, wurde damals hart bestraft. Heutzutage singt es Dieter Süverkrüp mit braver Stimme zu Holzbläsern.
Leider ist Ironie eher die Ausnahme. Dass das Arbeiterlied so humorlos daherkommt, liegt allerdings häufig an den glattgebügelten Einspielungen, die erst Jahrzehnte später entstanden, zumeist in den Studios der DDR, produziert, um ein selbsterschaffenes Massenpublikum zu unterhalten. Diese Aufnahmen prägen die Sammlung. Neben den Interpretationen durch Ensembles der DDR sind Lieder, von denen es keine historischen Aufnahmen gibt, in Einspielungen der üblichen Interpreten zu hören: Allen voran Hannes Wader und Ernst Busch.
Erst um 1920 änderte sich der Ton. 1917 hatte die Sowjetrevolution gesiegt, die SPD war längst zur Massenpartei und mit Beginn des Ersten Weltkriegs staatstragend geworden, dann gewann die KPD an Einfluss. Die neuen Zeiten brauchten einen neuen Soundtrack: Die Spaltung der Arbeiterbewegung beflügelte deren musikalisches Schaffen. Die Sammlung hat einige Orginalaufnahmen zu bieten, die zeigen, wie Arbeiterlieder auch klingen konnten: schief, wütend und urban. Stücke wurden nunmehr in der Bewegung selbst verfasst, die Musik war durchlässiger, unruhig, aggressiv. Aufnahmen von Agitprop-Gruppen wie den Roten Raketen oder Roter Wedding aus den späten zwanziger Jahren sind dafür ein Beispiel: Hier wird im oder neben dem Takt geschrien, dies auch von Frauen mit kräftiger Stimme, Klavierpassagen wirken zackig – der Unterschied zu den sterilen Aufnahmen der siebziger Jahre ist groß.
Neben Etabliertem, wie der Aufnahme vom »Solidaritätslied« (»Vorwärts, und nie vergessen«) aus dem Jahr 1932, sind viele Experimente zu hören. Sie lösen den braven Trott der Arbeitermärsche ab. Von der achten CD an (»Wessen Welt ist die Welt?«) dominieren Interpretationen von Hanns Eisler, der neben Ernst Busch einer der berühmten Künstler der Sammlung ist.
Zu den Sternstunden des Kampflieds, beflügelt von einer sich solidarisch erklärenden künstlerischen Avantgarde, gehört »Der heimliche Aufmarsch« (1930). Erstmals wurde das Gedicht Erich Weinerts von Wladimir Vogel vertont, bekannter aber ist es in der Version von Eisler. Der wütende Text wirkt noch immer: vom dramatischen Vorspann (»Es geht durch die Welt ein Geflüster,/Arbeiter, hörst du es nicht?«) bis zum Refrain (»Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre/Nehmt die Gewehre zur Hand!/Zerschlagt die faschistischen Räuberheere/Setzt alle Länder in Brand!«). »Der heimliche Aufmarsch« ist auch in einer weiteren Interpretation vertreten, einer in der DDR aufgenommenen Version von 1964 mit verändertem Text. Mit kreuzbravem Gefiedel und einem bombastischen Frauenchor büßt sie viel von der Unruhe ein, die aus dem Wechsel von agitierendem Sprechen und dem Gesang Buschs entsteht. Und doch: Es ist schwer vorstellbar, dass dazu ein Arbeitertrupp im Takt marschiert!
Als in Deutschland an eine kommunistische Revolution nicht mehr zu denken war, änderten sich auch die Topoi des Kampflieds. Die Reaktion war auf dem Vormarsch, die Nazis feierten Erfolg um Erfolg. Auf der neunten CD (»Lieder gegen Faschismus und Krieg«) finden sich kämpferische, antifaschistische Widerstandslieder genauso wie resignierte Stücke aus dem prekären politischen Alltag im jungen NS-Staat und schließlich auch Lieder aus den Lagern, so auch die »Thälmann-Kolonne« oder das »Einheitsfrontlied«, gesungen von Ernst Busch. Einige dieser Aufnahmen wurden noch 1938 an der Front im Spanischen Bürgerkrieg produziert.
Eine Entdeckung ist das »Lied vom Stacheldraht«, das von Mischa Spoliansky komponiert wurde. Die Aufnahme von 1941 stammt vom Deutschen Dienst der BBC London. Der Kabarettist Peter Ihle agitiert darin in wütendem Stakkato: »Die Welt ist nur ein Schützengraben,/Drin wimmeln braun die deutschen Schaben/Wie rostzerfreß’ner Stacheldraht./Weil wir nichts bess’res zu beißen haben/Nichts bess’res zu bieten haben/So produziert der Nazistaat/Nur Stacheldraht, nur Stacheldraht.«
Und trotz aller Abgeklärtheit: Lieder wie die »Moorsoldaten« mit dem Text von Martin Esser sind bis heute ergreifend, ebenso andere Lagerlieder wie das »Dachau-Lied« von Jura Soyfer (»Der du warst in fernen Tagen/Bist du heut’ schon längst nicht mehr./Stich den Spaten in die Erde,/Grab dein Mitleid tief hinein«) oder das »Buchenwald-Lied« von Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi. Das Lied wurde vom Ensemble der Deutschen Volkspolizei vertont. Ein solches Lied, entstanden in der aussichtslosesten Lage, in einer geschniegelten Aufnahme aus einem DDR-Studio zu hören, tut allerdings weh.
Die DDR machte sich eine ganze Reihe von Arbeiterliedern zu eigen. Zahlreiche linke Schriftsteller, Musiker und Künstler sorgten für Neuinterpretationen und Nachschub, um die Massen an den neuen Staat zu binden. Die elfte CD (»Als das Kraftwerk wurde Volkes eigen«) trägt der Institutionalisierung des Kampflieds zum Parteilied Rechnung. Von der Nationalhymne über »Das ganze Deutschland soll es sein« bis zum »Lied der Partei« (»Die Partei, die Partei, die hat immer recht«) sind viele Agitprop-Lieder zu hören – nach Herwegh, Tucholsky oder Brecht schrieben Johannes R. Becher oder Louis Fürnberg die Texte für die Staatschöre. Gerade in den Aufnahmen aus der jungen DDR treten neben den Höhepunkten des Genres auch die Tiefpunkte der Arbeitermusik hervor: Schlimm sind trotz der gelungenen musikalischen Montage durch Eisler das von Busch dargebotene Stück »Ami, Go home!« oder der Song »Stalin – Freund, Genosse«.
In der BRD widmeten sich Liedermacher aus dem Umfeld von DKP und K-Gruppen den Arbeiterliedern. Hannes Wader, Hein & Oss und vor allem der ewig bräsige Dietrich Kittner ließen das Arbeiterlied Geschichte werden: Es fehlte schlicht die Masse, um die man hätte werben können, und auch der Mut, sich von den musikalischen Vorbildern aus der DDR zu lösen. Nicht zuletzt spiegelt dies die hoffnungslose Situation der westdeutschen Linken wider, festgefahren irgendwo zwischen Romantik und Reaktion.
Musikalisch experimentierfreudige Stücke sind auf der zwöften CD (»Dass nichts bleibt, wie es war«), die mit Aufnahmen aus dem Jahr 1990 schließt, nicht zu finden. Dass Wader vom Folk kommt oder Degenhardt schon früh mit Elektro-Beats experimentierte? Auf der Compilation klingt das nicht an. Höchstens das Linksradikale Blasorchester fällt mit seiner Eisler-Variation zwischen Improvisation und Neuer Musik aus dem Rahmen. Andere Interpreten fehlen ganz, etwa Walter Moßmann, Ton Steine Scherben oder Floh de Cologne. Vor allem aber fehlen Frauen, etwa Fasia Jansen oder Bettina Wegner. Doch auch dieser Umstand ist ein Spiegelbild linker Tradition.
Überraschendes gibt es auch: Wer hätte gedacht, dass »Das weiche Wasser bricht den Stein«, der Hit der Friedensbewegung – auf der Sammlung in der Interpretation der unerträglichen Gruppe Bots –, von Günter Wallraff, Dieter Hildebrandt, Hanns Dieter Hüsch und Diether Dehm geschrieben wurde? Dehm kann man noch heute an der Gitarre erleben: Auf Parteitagen der »Linken« oder Straßenfesten erinnert er uns daran, dass das deutsche Arbeiterlied heute im CD-Player besser aufgehoben ist als auf der Bühne.
Die Compilation ist ein weiterer Schritt zur Musealisierung des Arbeiterliedes im engeren Sinne. Die zwölf CDs bieten einen ausführlichen Eindruck eines Stücks linker Kulturgeschichte. In Bezug auf die deutsche Arbeitermusik kann man nur hoffen: »Dass nichts bleibt, wie es war!«

»Dass nichts bleibt wie es war! 150 Jahre Arbeiter- und Freiheitslieder«. 4 x 3 CD-Boxen. (Bear Family Records)