Waldimir Putin wird erneut Präsident

Von Breschnjew lernen

Wladimir Putin wird erneut Präsident. Damit sind viele Russen nicht einverstanden, doch es fehlt eine politische Alternative.

»Ein Wahlkampf stellt das Staatssystem auf eine harte Probe.« Dieser Aussage des amtierenden russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew mag man auf den ersten Blick kaum Glauben schenken. Denn obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen erst in fünf Monaten stattfinden, hat sein Vorgänger und Nachfolger Wladimir Putin die Lage bereits im Griff. Auf dem Parteitag seiner Hauspartei »Einiges Russland« demonstrierte er Ende September, wie harmonisch sich ein Machtwechsel im Kreml durch einen banalen Postentausch in Szene setzen lässt. Putin übernimmt die Präsidentschaft von seinem einstigen Zögling, Medwedjew weicht auf den Posten des Premierministers aus.
Damit hat das Rätselraten über die politische Zukunft Russlands für die kommenden sechs oder womöglich sogar zwölf Jahre ein Ende. Denn so lange darf der neue Präsident im Amt bleiben. Unfreiwillig fühlt man sich an sowjetische Parteiführer erinnert, die sich mit dem Rückzug ins Privatleben schwer taten und ihre Pflichten bis an ihr Lebensende ausübten. Darüber hinaus drängen sich weitere Parallelen auf. Bereits unter Leonid Breschnjew brachten Öleinnahmen einem Teil der Bevölkerung relativen Wohlstand bei gleichzeitiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stagnation.

Allerdings weiß Medwedjew nur zu gut, wovon er spricht, denn unmittelbar nach der jüngsten Einheitsdemonstration des Duos offenbarten sich erhebliche Unstimmigkeiten. Das russische Establishment rechnet längst nicht mehr mit offener Gegenrede, umso weniger ist es gegen Patzer gefeit, sollte es dennoch zum Widerspruch kommen. Finanzminister Aleksej Kudrin, der mit über elf Amtsjahren zu den Schlüsselfiguren der Regierung Putins gehört und dem die Medien bereits eine Zukunft als Premierminister vorhersagten, ließ jedenfalls alle Konventionen außer Acht. Mit Verweis auf erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit dem amtierenden Präsidenten hinsichtlich des Budgets kündigte er an, er werde sich nicht an dessen zukünftiger Regierung beteiligen.
Medwedjew erteilte dem Minister wegen der Nichteinhaltung von »Disziplin und Subordination« eine Rüge und forderte ihn auf, ein Entlassungsgesuch einzureichen. Doch Kudrin gab an, diese Frage mit Putin diskutieren zu wollen, was Medwedjew zu der trotzigen Aussage veranlasste, dass er, solange er im Amt sei, solche Entscheidungen selbst treffe. Der Streit endete mit dem Ausscheiden Kudrins aus der Regierung.
Tatsächlich hielt der Finanzminister Medwedjews Forderungen nach einer Erhöhung der Militärausgaben für völlig überzogen, und auch in Bezug auf den Ausbau des russischen Silicon Valley im Moskauer Vorort Skolkowo vertraten die beiden unterschiedliche Ansichten. Dennoch galt Kudrin als verlässliches Regierungsmitglied, er genießt zudem die Unterstützung Putins. Umso mehr fällt die Zurückhaltung Putins auf, der seinem treuen Gefährten offenbar geraten hatte, seinen Posten zu verlassen. Geplant war dieser Schritt sicherlich nicht, und er kommt auch denkbar ungelegen, schließlich entwickelt sich Russlands Wirtschaft weiterhin krisenhaft. Und gerade vor den Wahlen sollten alle Anstrengungen eigentlich auf eine Konsolidierung der Führung ausgerichtet werden.

Medwedjew hätte Kudrins Kritik herunterspielen können, doch nach der Verkündung seines Verzichts auf das Präsidentenamt ist ihm offenbar mehr denn je daran gelegen, seinen politischen Einfluss geltend zu machen. Allerdings hat er sich mit Kudrin einen starken Gegner ausgesucht. Noch ist nicht bekannt, welche Pläne Putin nach 2012 für den erfahrenen Finanzpolitiker hegt, aber bereits jetzt ist absehbar, dass er nicht gewillt ist, gänzlich auf Kudrins Dienste zu verzichten. Zumindest drei Posten im Vorsitz des staatlichen Bank- und Finanzwesen wird Kudrin behalten.
Im Übrigen hätte er auch eine Karriere als Parteivorsitzender einschlagen können, die ihm aber offenbar zu unsicher erschien. Neben anderen Kandidaten wurde Kudrin die Führung der rechtsliberalen Partei »Rechte Sache« angetragen, die im Juni schließlich der Oligarch Michail Prochorow übernahm. Kudrin kommentierte seine Absage an die »Rechte Sache« erst nach seinem Rücktritt als Minister: Derartige Projekte diskreditierten die liberaldemokratische Idee. Tatsächlich dient der Multimilliardär Prochorow der arbeitenden Bevölkerung mit seinen Reformvorschlägen, in denen etwa die Erhöhung des Arbeits­pensums auf 60 Wochenstunden oder die Beschränkung der Hochschulbildung auf einen kleinen elitären Kreis vorgesehen ist, als abschreckendes Beispiel. Im Vergleich dazu erscheint Putins »Einiges Russland« fast schon als Wohlfahrts­einrichtung.
Der in politischen Dingen unerfahrene Oligarch hatte die positiven Signale aus dem Kreml allerdings fehlgedeutet. Statt sich auf sein Kerngeschäft zu konzentrieren, holte er weitere Personen in die Partei, die aus der »Rechten Sache« mit populistischen Losungen zum Kampf gegen Korruption und die Drogenmafia ein echtes Konkurrenzprodukt machen wollten. Seine Ambitionen brachten Prochorow in Konflikt mit der Regierung, er sah sich gar dazu genötigt, den Meister politischer Intrigen in der Präsidialadministration, Wladislaw Surkow, als »Puppenspieler« zu bezeichnen. Später stellte er eine Entschuldigung in Aussicht, und nun versucht er, wenigstens die nach eigenen Aussagen knapp 20 Millionen Euro zurückzuholen, die er in die Partei investiert hat.

Mittlerweile macht sich bei der russischen Mittelschicht Unzufriedenheit breit. Die »Rechte Sache« kommt als potentielle Interessensvertretung nicht mehr in Frage, und Putins Rückkehr ins Präsidentenamt führte zu großer Empörung und panischen Debatten über die Emigration. Zwar sollte dies den Strategen des Establishments zu denken geben, derzeit besteht jedoch noch kein Grund zur Unruhe. Gerade einmal 30 Oppositionelle hatten sich zum Parteitag des »Einigen Russland« aufgemacht, um gegen die bevorstehende Wahlfarce zu demonstrieren.
Die meisten Angehörigen der Mittelschicht haben zwar ganz offensichtlich genug, viele sehen aber keinerlei Zusammenhang zwischen sozialen und politischen Errungenschaften und dem Umstand, dass diese seinerzeit von einer breiten Masse erkämpft wurden und beileibe kein Geschenk großzügiger Staatsmänner darstellen. Der Verweis auf die Unruhen in den arabischen Ländern dient lediglich als Bedrohungsszenario. Sollten sich in Russland die Verhältnisse früher oder später ähnlich zuspitzen, dann nur unter Beteiligung der von vielen russischen Liberalen so verachteten Unterschichten.
Kein Wunder also, dass die für ihre Ausfälle gegen Putin bekannte Journalistin Julia Latynina in der Novaya Gazeta unlängst eine Hasstirade auf den gemeinen Pöbel verfasste und sich für die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts aussprach: Nur Steuerzahler sollten wählen dürfen, nicht aber »Sozialschmarotzer«. Das nimmt sich zwar absurd aus, wo doch die Wahlergebnisse ohnehin im Voraus ausgehandelt werden, spiegelt aber die gesellschaftliche Spaltung in Russland wider. Stände es in ihrer Macht, würde Latynina im Übrigen auch das Wahlrecht in den westlichen Demokratien beschneiden.