Die Entstehung der Proteste in New York

Road Work Utopia Parkway

In New York City soll eine Bewegung entstanden sein, die nun weltweit für Furore sorgt. John Letter arbeitet an der Wall Street in der Finanzbranche. Für die Jungle World hat er die Entstehung dieser Bewegung von Anfang an beobachtet.

New YorkFreitag, 23. September
Deprimierende Tage, deprimierende Nächte. Die Aktienkurse fallen und Kollegen beschweren sich über mangelnde Führung. Nachts lese ich von einer Besetzung in Downtown. Ich bin doppelt betroffen: durch meinen Beruf und durch meine Religion, mit der dieser Beruf seit Jahrhunderten in der öffentlichen Vorstellung in Verbindung gebracht wird. Facebook-Freunde sind entweder empört (»fehlende Berichterstattung in den Medien«, »faschistische Polizei«) oder euphorisch (»endlich etwas, für das man sich begeistern kann«). Mir geht’s irgendwie »ähh …«.
Auf einem Foto trägt ein Demonstrant eine Uniform ähnlich der, die ich jeden Tag zur Arbeit trage (außer am casual Friday). Er steht in stoischer Pose und trägt eine Schlinge um den Hals; sein Foto wird gepostet und bekommt schnell viel Lob. Zwei Freunde verlinken das Foto und finden Zustimmung. Ich frage nach und man sagt mir, ich solle mir keine Sorgen machen – es sei bloß eine Metapher.

Sonntag, 9. Oktober
Die Proteste sind zu einer Bewegung geworden, Facebook läuft über, und die Story hat es in die traditionellen Medien geschafft. Ich beschließe, mir das selbst anzusehen. Wo ich schon mal in der Stadt sein werde, reserviere ich gleich noch Plätze für einen Festivalfilm, aber ich entdecke zu spät, dass sich der Festumzug zum »Hispanic Day« und eine Million Zuschauer zwischen mir und dem Kino befinden. Es ist ein schöner Tag für einen Festumzug; weniger schön, um im Verkehr fest­zusitzen, in einem 15 Jahre alten Auto ohne Klimaanlage. Verdammte fehlende Berichterstattung. Ich hätte sonst den Zug genommen.
Komme zu spät. Ich habe die Kinokarten vorab bezahlt, sie scheinen aber weiterverkauft worden zu sein. Den Organisatoren tut es sehr leid. Sie finden noch einen Platz für mich. Wer hätte das gedacht: ausverkauftes Haus bei mehr als 1 000 Plätzen für einen zweieinhalbstündigen Schwarzweißfilm mit wenig Dialog und wenig Action. Ein Sturm tobt, der Brunnen versiegt, die Lampen gehen aus, und dann auch das Feuer im Ofen. Das Pferd frisst nicht mehr, Vater und Tochter essen nicht mehr. Fin.
Gehe zurück ins Tageslicht und hinunter zum Park nahe der Straße, die für jene Wirtschaftsbranche steht, die für Das-wogegen-gekämpft-werden-muss steht. An der Straßenecke bekomme ich ein Booklet mit dem Wort »Buh« in Weiß auf Schwarz und einen fies dreinschauenden Kürbis. Macht mir keine Angst. Satan, so sagen die Autoren des Heftchens, lebt. Ihm geht’s gut, und er ist dabei, die Menschheit zu vernichten. Bin erleichtert, als ich erkenne, dass es bei dieser Vorhersage nicht um die Banken geht, sondern um Halloween.
Weniger Publikum als im Kino, aber immerhin. Ein junger Mann steht am Parkeingang, hat sich einen Dollar über den Mund geklebt und trägt ein Schild, auf dem steht, dass er seinen Job verlieren könnte, weil er eine Stimme hat. Dass sein Mund überklebt ist, macht es schwer, ihn zu verstehen, aber beim dritten Versuch bekomme ich mit, dass er seit 14 Tagen hier ist. Frage mich, was für einen Job er hat, bei dem er sich so lange freinehmen kann; er ist mit seinem Handy beschäftigt. Mache mir Notizen und gehe weiter.
Am Broadway stehen die Demonstranten Schulter an Schulter und nutzen die Gelegenheit, ihre Botschaft zu verbreiten. Ein paar Schultern weiter tragen zwei Frauen Schilder mit dem Angebot kostenloser Umarmungen für die Demokratie; ein Passant nimmt das Angebot wahr und geht dann weiter, während sie die Strichliste auf der Rückseite des Schilds weiterführt: 18 Uhr 45, und schon 46 Umarmungen.
Im Park leiht eine freundliche Dame mit Papageien (»Papageien für den Frieden«) einem pakistanischen Fernsehreporter einen davon. Habe gehofft, auch einen für ein Foto für die Jungle World geliehen zu bekommen, aber sie scheint etwas anderes vorzuhaben und eilt weiter.
Die Parkbesetzung ist doch lustiger, als ich es mir vorgestellt habe, und ich kapiere, dass es um etwas Wichtiges geht; aber der Zweck von all dem ist mir noch nicht ganz klar. Ich stoße auf einen Studenten der Cornell-Universität, seinem Schild zufolge ist »Occupy Wall Street« ein Insidergeschäft. Er erklärt gerne: Sie brauchen die Protestierer, denn wenn die Wall Street selbst zugäbe, dass Korrekturen nötig sind, würde es ihnen niemand glauben. Seiner Ansicht nach ist es ein gutes Geschäft, weil so viele Korrekturen nötig sind, und auch weil sie rücksichtsvoll genug waren, ihm einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen, der ihn in dieser Gegend sonst, schätzt er, 150 Dollar pro Nacht kosten würde. Ich würde denken, dass man ein Stückchen Park billiger haben könnte, da er hier ohne die üblichen Annehmlichkeiten eines Hotels auskommen muss, aber andererseits gibt’s hier reichlich frische Luft (abgesehen von gelegentlichem Marihuana-Rauch), plus Trommeln und Tanzen ein paar Schritte weiter.
Gehe zu den Trommlern und Tänzern. Erstaunliches Talent, Eintritt frei. Plastikeimer werden als improvisierte Trommeln verwendet; reicht aber für eine schöne feierliche Stimmung. An einem behelfsmäßigen Informationsstand werden kleine Papierrechtecke verteilt, auf denen in fetten Lettern steht: »Die Welt vs. Wall Street«. Verdammt, schon wieder auf der falschen Seite!
Der Journalist neben mir scheint einen deutschen Akzent zu haben, und ich frage ihn nach seinem Auftraggeber. Er sagt mir, dass der in den USA nicht sehr bekannt sei, aber wie sich herausstellt, ist mir der Name doch bekannt: Jungle World. Kleine Welt!
Einige Frauen hören damit auf, ihr Schild (»Kein Sotschi 2014«) vor die Live-Stream-Video-Kamera zu halten und gratulieren uns zu unserer Begegnung; dann geben sie uns kleine Papierschnipsel mit Links, damit wir im Internet mehr über ihr Anliegen lesen können. Inzwischen beginnt die Generalversammlung; Mein Kollege geht, um darüber zu berichten, und ich spreche mit zwei Doktoranden mit Schildern. Der eine aus Princeton will losgehen, sich etwas zu essen holen, und ich bin auch ziemlich hungrig, aber ich will erst sein Schild mit dem Hammer-und-Sichel-Emblem und dem Spruch »Freiheit statt Freie Märkte« verstehen. Er versichert mir, dass er nicht prosowjetisch sei – es ist eine reinere Form des Kommunismus, der er anhängt. Aber als ich meinen Notizblock hervorziehe, um ein paar Stichpunkte zu notieren, erklärt er plötzlich, es sei eigentlich seine Absicht, Seminardiskussionen anzuregen. Die Hauptsache sei, Interesse und Engagement bei den Studenten zu wecken.
Wieder auf dem Broadway erklärt eine Studentin mit einem Plakat, auf dem » … dann sollen sie Kuchen essen« steht, dass das »sie« sich dabei auf die 99 Prozent beziehe. Die junge Frau macht sich Sorgen, weil sie bei Abschluss ihres Studiums 45 000 Dollar Schulden haben wird und nicht weiß, wie sie dann den Kuchen bezahlen soll. Ich mache mir nicht die Mühe, ihr von meinem eigenen Studentendarlehen zu erzählen, dessen Tilgungsraten bis vier Jahre nach Beginn meiner Rente festgelegt sind. In der Nähe berichtet mir ein Mann, der aus Pakistan stammt, dass er seine ganze Familie aus Maine hergebracht habe, nur für die Proteste. Mit Pappschild in der Hand posiert er mit seinen Kindern für Fotos und erklärt den Grund für die lange Reise: »Wir erleben Geschichte.«
Ich beschließe, nach dem nächsten Schildträger Schluss für heute zu machen: »Ich sehe den Mond, und der Mond sieht mich, und der Mond sieht die eine, die ich zu sehen ersehne. Gott segne den Mond und Gott segne mich und Gott segne die eine, die ich liebe.« Bei all der Straßenbeleuchtung war es mir gar nicht aufgefallen, aber als ich mich umdrehe, steht zwischen zwei Häusern der fast volle Mond am Himmel.
Fahre nach Hause.

Dienstag, 11. Oktober
R. aus Berlin ist zu Besuch und wir beschließen, zum Zuccotti-Park zu fahren. Es ist spät, und es ist viel ruhiger als am Sonntag. Das ist gut, da heute ein Wochentag ist und ich noch in Uniform bin und mich ein bisschen gehemmt fühle. Wir halten an, um mit ein paar Studenten aus Florida zu sprechen, die dafür aber aufhören müssen zu lesen (»Der kommende Aufstand«, »The Ancient Rain«, »Die Gesellschaft des Spektakels«). Ich beginne mit der Frage, die mich seit Sonntag beschäftigt: Bin ich der Feind?
Ein Typ geht vorbei, mit etwas, das er Zauberkeimlinge nennt. Foto, dann zurück zur Diskussion: Es gibt keine Zentrale mehr. Wall Street ist eine Abstraktion. Ich hole meinen Notizblock hervor, aber R., selbst ein ehemaliger Journalist, bemerkt eine seltsame Entwicklung: Der Interviewer wird interviewt, um ihn und seine Entscheidung, im Finanzbereich zu arbeiten, besser zu verstehen. Wie viele andere hier hat eine Zuhörerin die Dinge in 99 Prozent und ein Prozent aufgeteilt. Sie entscheidet, nachdem sie vom Alter und Zustand meiner Transport- und Kommunikationsmittel erfahren hat, dass ich mich so anhöre, als ob ich zu den 99 Prozent gehörte. Definitiv eine Erleichterung, da ich doch ein Visitenkarten tragendes Mitglied des hier in Frage stehenden Berufsstands bin. Aber Erleichterung weicht Verwirrung, als sie die Wünsche der 99 Prozent als »liberal« beschreibt, im Widerspruch zu all dem, was ich am Sonntag über die Regierungskontrolle von Wall Street und großen Firmen gehört habe, über das Versagen des demokratischen Prozesses und über die dazugehörige Notwendigkeit einer Revolution.
Gehe hinüber zum Medienbereich auf der Suche nach Antworten. Finde heraus, dass die Besetzer bereits gewonnen haben, weil es darum geht, das Bewusstsein für eine bessere Kontrolle und Besteuerung von Unternehmen zu schärfen. Ansonsten: neue Fragen. Werde ungewollt Objekt eines Interviews auf livestream.com. Pakistanisches Teehaus, dann nach Hause, mit leichter Verspätung: »Road Work Utopia Parkway«.

Samstag, 15. Oktober 2011
Ein globaler Aktionstag. Beginne mit Verschlafen und Plaudern am Telefon. Recherchiere noch Details des lokalen Handelns, als ich eine E-Mail bekomme: Cornel West und Michael Moore sind auf einen Kaffee und Donuts im Zuccotti-Park. Springe ins Auto; spare Tunnel- und Parkgebühren (spare Geld, verliere Zeit); als ich ankomme, sind die prominenten Besetzer längst weg. Die Krishnas sind heute strategisch günstig in der Nähe des Blumenbeets positioniert und singen für den Wandel: »Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare«. Sie lächeln breit. Wahrer Reichtum, lese ich unten auf ihrem Liederzettel, ist innerlich.
Dian Killian bietet »Kostenlose Empathie« an. Sie sieht super-empathisch aus, und auch wenn es bei den Krishnas sehr schön ist, ich beschließe doch, »Hallo« zu sagen. Sie hat reichlich Literatur über gewaltlose Kommunikation und freut sich, dass ich mit dem Thema vertraut bin. Sie gibt mir eine 25-Dollar-Rabatt-Karte, aber dann kommt sie mit jemand anderem ins Gespräch, also gehe ich weiter und begegne einer Frau, die offenbar meint, sich für ihren Vater entschuldigen zu müsse. (Mein Sohn in ein paar Jahren? Mal sehen...)
Am anderen Ende des Parks strickt eine Frau. In den 16 Tagen, die sie schon hier ist, hat sie 30 Objekte gestrickt und verschenkt – Mützen, Schals, Fäustlinge. Ich äußere mein Erstaunen, dass sie keinen Krampf in den Fingern bekommt, aber sie sagt, stricken halte sie gelenkig und beuge Arthritis vor. In der Nähe sehe ich ein Paar mit einem Schild, auf dem es sich beim »Arabischen Frühling« bedankt. Die seien es letztlich, die das alles begonnen haben. Komme ins Gespräch mit einem jungen Mann aus Michael Moores Geburtsstadt Flint, Michigan, der noch trauriger ist als ich, dass er den berühmten Sohn seiner Stadt verpasst hat. Er fragt dreimal nach, ob Moore wirklich nicht mehr im Park ist, bevor er sein Schild erklärt: »Eat the Rich«. Es soll eher schockieren, die Leute offener machen und sie zum Reden bringen.
Nehme die Subway zum Time Square für die 17-Uhr-Besetzung. Gerate auf die falsche Seite der Absperrungen. Bekomme dennoch exklusive ­Interviews mit Besetzungsköchen (gespendetes Essen per Taxi aus Brooklyn hergebracht; der Besetzer Lieblingsgericht: vegane Quiche), einem Doktoranden aus Queens, der eine große, gebundene Enzyklopädie über New York City herumträgt (lange Geschichte) und mit einem Paar Zombies (»Er ist immer so«).
Finde einen Weg über die Straße und ins Zentrum der Demonstration. Dort treffe ich einen ehemaligen Fotoredakteur des Time Magazine, der dann einen Job als Hundefotograf fand und sich zu Pferden hochgearbeitet hat. Außerdem einen Typen mit einer Schafsmaske (»Schafe der Welt, erwacht!«) und ein paar junge Leute, die eine große Papp-Guillotine herumtragen (für Konzern­chefs, da es keinen Weg gibt, die Dinge friedlich zu ändern; die Zeit für ein Volksgericht ist gekommen). »Die Wurzeln des Klassenkampfs zurück zu ihren revolutionären Traditionen bringen« – metaphorisch, natürlich.
Sprechchöre rollen durch die Menge mittels des Bio-Lautsprecher-Chor-Systems: »Wirtschaftsverbrecher töten uns«, »Dies ist ein friedlicher Protest« (klingt als Sprechchor nicht völlig friedlich) und »Wir sind die 99 Prozent«. Ein Passant sagt »Scheiß drauf« zu einem anderen – einer von dem einen Prozent zweifellos. Die Lage wird kritisch, als ich Anti-Fed-Typen nach ihren Berührungspunkten mit Hitler frage (»Was hat das mit uns zu tun? Glaubst du etwa, jeder hier ist Antisemit?«), aber sie beruhigen sich wieder, als wir zu ihren Berührungspunkten mit Jesus kommen (biblische Geschichten).
Trete um die Absperrungen herum und hinein in eine hitzige Diskussion zwischen Besetzern und Zigarre rauchenden Studenten vom King College, die ein großes Ronald-Reagan-Foto tragen (»Halt ihn aufrecht!«, »Entschuldige, mein Arm wird müde.«). Noch etwas Exklusives: ein junges Paar mit Schild »Kleine Kinder, hütet euch vor den Simulacra«. Es wird spät; die Polizei arrangiert ihre Absperrungen neu und ich müsste einiges erklären, wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort wäre. Finde den Weg zum Alltag auf dem Time Square: Touristen aus Magdeburg, ein Libanese, der für ein handgemaltes Portrait Modell sitzt, ein Pfandflaschensammler mit vollem Einkaufswagen.
In der Subway nach Downtown treffe ich Studenten, von denen einer eine Videokamera wie eine Stirnlampe trägt; es stellt sich heraus, dass ich einen ihrer Professoren kenne; lasse Grüße ausrichten. Fahre zurück zum Zuccotti-Park. Begegnungen am späten Abend: ein amerikanischer Ureinwohner, der sauer ist, weil ich besetztes Land unbefugt betreten habe, als ich ein Foto von seinem Schild mache (»Wall-Street-Banker sind der Feind aller Menschen und der Umwelt«); ein Gymnasiast aus Vermont, der mir erklärt, dass das College Beschiss sei und dass er überlege, sein Leben mit Reisen in alle Welt zu verbringen. Versuche, ihn davon zu überzeugen, aufs College zu gehen.
Ein Typ trägt eine Armbinde mit Dollarzeichen. Diese Mode erinnert mich an die Judensterne der NS-Zeit und ich will ihn unbedingt fragen, was das bedeuten soll, aber er scheint über mich verärgert zu sein und ich bin froh, überhaupt ein Foto machen zu können. Unterhalte mich mit Larry, der eine Jerry-Garcia-Krawatte (Sammleredition) und ein Schild »Menschen zuerst, nicht Dollar« trägt. Er ist ein ehemaliger Wall-Street-Angestellter und versichert mir, dass sie »keine Hasser« seien und dass es das Ziel sei, alle Straßen zu besetzen, nicht bloß die Wall Street. Die Botschaft: Frieden, Liebe und Gerechtigkeit. Nach einem langen, verwirrenden Tag gefällt mir das gut.
Müde, hungrig. Über die Brooklyn Bridge, dann nach Hause.

Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Schuster