Ein Gesetz wie Poesie
Politik besteht bekanntlich zu einem wesentlichen Teil aus schönen Worten. Das gilt häufig auch für die Gesetze, die sie hervorbringt. Am vergangenen Donnerstag hat der deutsche Bundestag mit den Stimmen der Koalition ein solch wohlklingendes Gesetz verabschiedet: das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG). Es soll Kinder besser vor Missbrauch und Vernachlässigung schützen. Familienministerin Kristina Schröder (CDU) bezeichnete es sogleich als »Meilenstein«. Der bessere Schutz soll vor allem durch eine stärkere Vernetzung der für diesen Bereich zuständigen Stellen und durch den Einsatz von Familienhebammen erreicht werden. Diese sollen Familien betreuen, deren Lebenssituation durch gesundheitliche und soziale Belastungen geprägt ist, und das bis zum ersten Geburtstag des Kindes. Um eine bundesweite Versorgung mit Familienhebammen zu ermöglichen, verpflichtet sich der Bund per Gesetzestext, in den nächsten vier Jahren 120 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
Das Gesetz baut auf den Erfahrungen der Kommunen auf, die bereits ein ähnliches Modell anwenden. Diese konnten durch die Bereitstellung einer Frühhilfe ihre Ausgaben im kostspieligen Bereich der »familienersetzenden Hilfen« deutlich reduzieren. Konkret heißt das, dass weniger Kinder und Jugendliche aus ihren Familien genommen werden mussten. »Die Stadt Dormagen ist hier eine Art Vorreiter«, sagt Paula Honkanen-Schoberth, die Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB). »Hier werden die Familien aller neugeborenen Kinder im Rahmen von ›Baby-Willkommens-Besuchen‹ von Mitarbeitern der Kommune besucht. Die Mitarbeiter kommen als Gäste und stellen Hilfs- und Unterstützungsangebote vor.« Insbesondere die Tatsache, dass alle Familien besucht werden, begrüßt Honkanen-Schoberth. Denn so verenge sich der Blick nicht auf sogenannte Problemfamilien.
Den geplanten flächendeckenden Einsatz von Familienhebammen begrüßt der DKSB. Kritiker warnen jedoch, dass die Finanzierung nach Ablauf der vierjährigen Anschubfinanzierung durch den Bund vollkommen unklar sei. Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits angekündigt, den Vermittlungsausschuss anzurufen, da sie befürchten, dass die Finanzierung nach der Pilotphase den Ländern überlassen bleibe. Auch die geplante Vernetzung der zuständigen Stellen müssen womöglich letztlich die Kommunen und Länder tragen. Nur die Kosten für das erweiterte Führungszeugnis, das für hauptamtliche Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich ist, halten sich in Grenzen. Was bleibt, ist lediglich die vierjährige Zusage der Mittel für die Familienhebammen.
»So sehr wir das Gesetz begrüßen, wir hätten uns gewünscht, dass auch die Finanzierung für die Vernetzungsarbeit klar geregelt ist«, sagt Honkanen-Schoberth. »Ein Rechtsanspruch auf Beratung für alle Eltern und Kinder wäre dringend erforderlich – und das nicht nur in Notlagen, sondern immer«, fasst sie die Kritik an dem Gesetzestext zusammen. Auch hätte sie sich erhofft, dass Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen expliziter in das Gesetz aufgenommen worden wären. Der DKSB fordert schon lange, die Kinderrechte als elementare Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen. »Erst dann würde sich der gesamtgesellschaftliche Blick auf Kinder und Jugendliche ändern. Es würde den Blick schärfen für ihre Rechte«, sagt Honkanen-Schoberth.
Dazu scheint die Bundesregierung nicht bereit zu sein. Derartige Grundrechte wären nämlich einklagbar und würden mit Sicherheit zu Mehrkosten führen. Die Folge ist ein Kinderschutzgesetz, in dem die Finanzausstattung – außer für das Aushängeschild der »Familienhebamme« – erstaunlich unklar bleibt. Entsprechend haben Länder und Kommunen, trotz grundsätzlicher Zustimmung, sehr verhalten auf das Gesetz reagiert. Schließlich tauchen sie bereits mit klar ausgewiesenen Summen im Gesetz auf – von jährlichen Mehrkosten für sie in Höhe von rund 64 Millionen Euro ist da die Rede. Dabei ist die Realität der Kinder- und Jugendhilfe in vielen Ländern und Kommunen schon jetzt geprägt vom vermeintlichen Sparzwang. »Die Fachleute in den Beratungsstellen beklagen eine chronische Unterfinanzierung. Es darf nicht dazu kommen, dass sie mehr Zeit für die Akquise von Spendengeldern aufwenden als für die Beratung«, warnt Honkanen-Schoberth.
Tatsächlich ist Vorsicht geboten. Da bei der Finanzierung politischer Projekte häufig das benötigte Geld aus einem anderen Bereich abgezweigt wird, könnten die langfristigen Erfolge der Kinder- und Jugendhilfe durch die neue Frühhilfe gemindert werden. Die Finanzierung der Familienhebammen könnte so zu Lasten der Hilfen gehen, die sich an Kinder in späteren Entwicklungsphasen richten. Einige Bundesländer und Kommunen, wie Hamburg oder Wilhelmshaven, sind bereits dazu übergegangen, die kostspieligen »Hilfen zur Erziehung« in »sozialräumliche Angebote« umzuwandeln. Das bedeutet etwa, dass die Beratung von Familien in Problemlagen in Jugendzentren oder Kinder- und Familienzentren stattfinden wird. »Unsere Erfahrung sagt aber, dass gerade diese Menschen in Notlagen sich nicht an Beratungsstellen wenden«, sagt Michael Kolle, der Geschäftsführer des freien Kinder- und Jugendhilfeträgers Miko aus Hamburg. »Bislang war unsere Hilfe immer eine aufsuchende, das heißt, wir sind zu den Menschen gegangen«.
Wirkliche Kindeswohlgefährdung erkennt man nach Kolles Meinung erst bei einem Hausbesuch. Von dieser teuren Betreuung möchte sich der Hamburger Senat gerne lösen, obwohl durch das achte Sozialgesetzbuch (SGB) bundesweit ein Rechtsanspruch auf diese Hilfen besteht. Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) möchte diesen umgehen und sagt das auch ganz offen. Auf einer Veranstaltung in Bergedorf forderte er der Bergedorfer Zeitung zufolge, dass man Hilfebedürftige aus dem Haus holen solle: »Mütter könnten zum Beispiel Kochkurse mit ihren Kindern machen.« Zudem erklärte Scheele, dass er die Mittel für Hilfen zur Erziehung, die in der Regel eine professionelle Unterstützung von fünf bis sechs Stunden pro Woche umfassen, deutlich begrenzen möchte. »Es wird keine Qualitätsverluste geben, sondern Steuerungsgewinne. Wir sparen nicht«, wird der Senator zitiert. Kolle kennt diese Argumentation. Er bezweifelt jedoch, dass kein Sparwille vorliege. »Die Einzellfallhilfen werden seit Jahren zurückgefahren, bei wachsendem Bedarf durch immer prekärere Lebensverhältnisse«, sagt er.
Eine »Globalrichtlinie« der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration gibt dem Miko-Geschäftsführer Recht. Sie tritt zum Januar 2012 in Kraft und zeigt, dass die »sozialräumlichen Angebote« eindeutig eine Sparmaßnahme sind. Diese »sollen die Fallzahlen der Hilfe zur Erziehung und die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung begrenzen«, heißt es in der Richtlinie. In anderen Bundesländern und Kommunen herrscht ein ähnlicher Umgestaltungswille. So erscheint das vom Bundestag beschlossene Gesetz in einem anderen Licht. Im schlimmsten Fall werden die Bemühungen der Familienhebamme ad absurdum geführt, weil diese am Ende ihrer Tätigkeit Familien in »Belastungssituationen« nur raten kann: Wenden Sie sich an das nächstgelegene Jugendzentrum! Oder machen Sie doch mal einen Kochkurs! Vernetzter, umfänglicher Kinderschutz sieht anders aus.