Immer mehr Jugendliche gelten als nicht »ausbildungsreif«

Die Reifeprüfung

Viele Unternehmen klagen über Bewerber, die nicht »ausbildungsreif« seien. Angesichts von derzeit knapp 30 000 unbesetzten Lehrstellen stellt sich die Frage, wie es eigentlich um die Ausbildungsreife der Betriebe bestellt ist.
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Seit dem Beginn der Hartz-Reformen beschweren sich die Vertreter der Wirtschaft über die mangelnde Qualifikation von Schulabgängern. Die Medien greifen das Thema dankbar auf und zeichnen das Bild von Jugendlichen, die selbst schuld sind, wenn sie keine Ausbildungsplätze finden. »Sind unsere Azubis zu blöd?« fragte die Bild-Zeitung voriges Jahr, der Spiegel berichtete über »Gammel-Azubis« und der Tagesspiegel brachte schon 2003 unter dem Titel »Keine Bildung, kein Benehmen« eine Reportage über angehende Bürokauffrauen in Hüfthosen und Auszubildende, die im Friseursalon die Kundschaft duzen. Ein Jahr später schloss die Bundesregierung mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft den »Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs«, in dem auch Kriterien für die »Ausbildungsreife« festgelegt wurden. Neben schulischen Kenntnissen gehören seitdem auch sogenannte psychologische Leistungsmerkmale zum Mindeststandard für die Aufnahme einer Berufsausbildung. Mittlerweile sorgen sich die Wirtschaft und die Bundesregierung nicht nur um Auszubildende, sondern auch um den Mangel an Facharbeitern.

Bis September 2011 ließen die Unternehmen 29 700 Lehrstellen unbesetzt, 2010 waren es 17 000, wie aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht. Ein großer Teil der Schulabgänger, so das von den Vertretern von Industrie und Handwerk vorgetragene Argument, sei nicht »ausbildungsreif«. Ein Teil von ihnen beherrsche kaum die orthographischen Grundlagen der deutschen Sprache, auch das Einmaleins beherrschten viele Bewerber nur mangelhaft. Die für eine Ausbildung darüber hinaus geforderten Eigenschaften wie Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz seien bei den Schulabgängern häufig nicht sonderlich ausgeprägt.
Die Klagen der Personalchefs weisen auf ein durchaus ernstzunehmendes Problem hin, das sich in den Statistiken der BA widerspiegelt. Trotz der Zahl der offenen Ausbildungsplätze fanden der Statistik zufolge im selben Zeitraum dieses Jahres etwa 18 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz.
Beispielsweise in der Region Kassel wird etwa der Hälfte der dort ansässigen jugendlichen Schulabgänger attestiert, nicht »ausbildungsreif« zu sein. So zumindest sieht es die Industrie- und Handelskammer in Kassel (IHK Nordhessen). »Die Unzufriedenheit mit der Leistungsbereitschaft, der Belastbarkeit und der Disziplin mancher Schulabgänger steigt seit 2006 kontinuierlich an.« Zu diesem Ergebnis gelangte eine Umfrage unter den Unternehmern.

Der DGB-Jugendbildungsreferent André Schönewolf sieht dagegen ein ganz anderes Problem. Die DGB-Jugend habe belastbare Zahlen vorgelegt. »Aus denen geht hervor, dass es eher manche Unternehmen sind, die nicht über die nötige Ausbildungsreife verfügen.« Insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch im Einzelhandel gebe es teilweise eklatante Mängel in der Ausbildung. Petra Vogel-Huff, zuständig für die berufliche Bildung beim DGB Nordhessen, kritisiert: »Statt die Jugendlichen öffentlich zu diskreditieren, sollte die IHK lieber ihrer Überwachungspflicht nachkommen.«
Neben der »Ausbildungsreife« scheint es für Jugendliche noch weitere Hürden bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz zu geben. Bewerber mit Migrationshintergrund stoßen bei potentiellen Lehrmeistern immer wieder auf Ablehnung. Die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney (Grüne) sagte: »Jeder vierte Baden-Württemberger hat ausländische Wurzeln. Unter den Jugendlichen ist es sogar jeder Dritte.« Gleichwohl sehe sie bestehende Vorurteile als Vermittlungshemmnis. Öneys Einschätzung wird vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn bestätigt. Eine Befragung des BIBB im November vorigen Jahres kam zu dem Ergebnis, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund bei Einstellungsentscheidungen mit Vorbehalten konfrontiert seien, die ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz erheblich verringerten.
Für die Soziologin Heike Solga von der Freien Universität Berlin liegt das Hauptproblem der Unternehmen weniger in der fehlenden »Ausbildungsreife« angehender Auszubildender, vielmehr sieht sie das Problem in den deutlich gestiegenen Anforderungen der Unternehmen. In einem Interview, das kürzlich in der Taz erschien, sagte sie, die Betriebe hätten sich seit langer Zeit darauf eingestellt, vor allem mit jungen Erwachsenen zu tun zu haben. Im Vergleich zu ihren deutlich jüngeren Konkurrenten von den Haupt- und Realschulen verfügten ältere Bewerber über eine deutlich höhere Vorbildung. Die Unternehmen müssten sich zukünftig auf mehr Bewerber mit einer geringeren Qualifikation einstellen, sagte Solga.
Viele Unternehmen scheuen derzeit allerdings noch davor zurück, ihre Ausbildungsplätze auch an jüngere und weniger gute Schüler zu vergeben. Ihre Anforderungen an Auszubildende sind deutlich gestiegen. War es in den achtziger oder neunziger Jahren für einen Auszubildenden noch ausreichend, eine Vorstellung davon zu haben, wie und womit er in der Zukunft gerne arbeiten würde, haben die Lehrmeister heute höhere Erwartungen.

Den Personalleitern, die gewerbliche Ausbildungsplätze vergeben, genügt es nicht mehr, wenn ein Jugendlicher im Bewerbungsgespräch sagt, er habe große Lust, im Elektrobereich zu ­arbeiten. Sie verlangen darüber hinaus oft noch spezifisches Wissen über die Branche oder das wirtschaftliche Umfeld des Unternehmens. Eine Anforderung, der gerade Hauptschüler nur schwer gerecht werden können.
»Die Ausbilder müssen sich darauf einstellen, dass sie den Berufsschülern mehr beibringen müssen«, sagt Solga. Die Meister in den Betrieben können, wenn sie weiterhin mit gut ausgebildeten Fachkräften arbeiten wollen, nicht mehr darauf vertrauen, dass ein Großteil der Ausbildung von den Schulen übernommen wird.
Auch das gelegentlich vorgebrachte Argument, dass es sich bei den Jugendlichen ohne einen Ausbildungsplatz sowieso nur noch um den »Bodensatz der Gesellschaft« handele, hält genauerer Betrachtung nicht stand. Zwar ist es zutreffend, dass derzeit etwa 18 000 Jugendliche ohne einen Ausbildungsplatz dastehen. Gleichwohl befinden sich noch zusätzlich etwa 180 000 Jugendliche in der »Warteschleife«, weil sie ebenfalls keinen der begehrten Plätze ergattern konnten. Diese Gruppe wird in der Statistik jedoch nicht gezählt, da sie in berufsvorbereitenden Maßnahmen untergebracht ist. Nach offizieller Lesart befinden sie sich nicht auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Für viele Jugendliche dürfte es angesichts dieser Zahlen auch im kommenden Jahr schwierig werden, eine Lehrstelle zu finden. Für sie bedeutet das, dass sie weiterhin Runden im Bereich der Berufsvorbereitung drehen, so lange, bis sich vielleicht auch für sie noch irgendwo eine Lücke im System auftut. Ob jedoch die Lehrmeister in den Betrieben bereit sind, ihnen diese Chance zu geben, hängt auch davon ab, wie lange und wie erfolgreich sich die Propaganda des Fachkräftemangels und der nicht »ausbildungsreifen« Jugendlichen in Deutschland noch halten kann.