Nadezhda Prusenkowa und Alexander Chernykh im Gespräch über Nationalismus in Russland

»Freie Wahlen sind utopisch«

Am 19. Januar jährte sich der Mord an dem Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Barburowa zum dritten Mal. Sie wurden 2009 in Moskau von Neonazis erschossen. Die Ermordeten waren bekannt für ihr antifaschistisches Engagement. Sie sind nicht die einzigen Opfer gewalttätiger Nationalisten in Russland. Jungle World sprach mit Barburowas ehemaliger Kollegin bei der Novaja Gazeta, Nadezhda Prusenkowa, und mit dem Fotografen Alexander Chernykh, der für die Zeitung Kommersant arbeitet, über Nationalismus in Russland und Nationalisten in der Oppositionsbewegung.

Hat der Nationalismus in Russland, hat die nationalistische Gewalt zugenommen?
Alexander: Nationalismus und nationalistische Gewalt sind zwei verschiedene Dinge. Gewalttaten hatten etwa vor zwei Jahren ihren Höhepunkt. Vorher hat die Polizei immer weggesehen und sich nicht darum gekümmert, wenn Migranten ermordet wurden. Dann nahm die Zahl der Morde aber so zu, dass die Regierung handeln musste und die Täter bestraft wurden. Seitdem sind die Gewalttaten weniger geworden.
Nadezhda: Seit Anfang der nuller Jahre ist Nationalismus stärker geworden. Im Zuge der derzeitigen Oppositionsproteste politisieren sich viele Menschen. Und das ist wiederum ein Impuls für die Nationalisten, auch zu den Protesten zu gehen. Nicht unbedingt, weil sie dieselben Ziele haben, sondern weil sie am politischen Leben des Landes teilhaben wollen. Wir sehen einen Anstieg des Nationalismus durch die allgemeine politische Aktivität.
Hat das Erstarken auch damit zu tun, dass die Sowjetunion zusammengebrochen ist?
Nadezhda: Natürlich ist Nationalismus eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, weil danach alles zerstört war. Wenn es keinerlei moralischen Halt oder Orientierung mehr in einer Gesellschaft gibt, dann ist die Nation das letzte Überbleibsel, auf das man sich positiv beziehen kann. Damit folgt Russland dem traditionellen Weg großer Imperien, die auseinanderbrechen. Aber der Minderwertigkeitskomplex eines großen Landes bleibt.
Alexander: Das Imperium hielt alles zusammen, beim Zusammenbruch sind die alten Konflikte und die Fremdenfeindlichkeit wieder ausgebrochen.
Was sind die wichtigsten nationalistischen oder neonazistischen Gruppen in Russland? Wie sind sie organisiert und welchen Rückhalt haben sie in der Bevölkerung?
Alexander: Das ist recht komplex, weil es im ­nationalistischen Lager ganz verschiedene Ebenen gibt. Im Parlament gibt es zum Beispiel die Liberal-Demokratische Partei von Wladimir Schirinowski. Der Kreml braucht eine nationalistische Strömung, die er kontrollieren kann. Diese Partei wählen ganz normale bürgerliche Nationalisten, ­denen irgendetwas fehlt.
Wenn wir über radikale Nationalisten reden, also über Neonazis, sind das vor allem Jugendliche, aber inzwischen auch um die 35jährige. Sie haben ein Organisationsproblem, formieren sich immer wieder und trennen sich dann, weil die konkurrierenden Anführer sich zerstreiten. Oder sie werden vom Kreml unterdrückt.
In den vergangenen Jahren war die Bewegung gegen nichtlegale Immigration (DPNI) eine der bekanntesten Organisationen. Ihr Anführer war Alexander Below, anfangs eine charismatische Persönlichkeit. Aber er hat sich dann kompromittiert, indem er mit dem Kreml zusammengearbeitet hat. Seitdem gilt er den Neonazis als Verräter. Damit hat auch die Bewegung an Kraft ver­loren. Von solchen Organisationen, die zuerst ganz populär waren und dann in der Versenkung verschwanden, gibt es einige. Zum Beispiel Slawjanskij Sojus (Slawische Union) von Djemuschkin. Da sind die Zielgruppe Neonazi-Skinheads, aggressive Jugendliche. Eine andere Organisation, Russkij Obraz (Russische Art und Weise), wendet sich mehr an Studenten. Sie präsentieren sich als intelligente Nationalisten, als neue Generation einer europäischen Rechten. Auch sie sind nicht mehr so interessant für ihre früheren Anhänger, haben aber noch durch eine große Medienpräsenz.
Nadezhda: Jetzt könnte der Eindruck entstehen, die ganzen Gruppen hätten keine Bedeutung mehr. Aber es gibt sie noch und sie machen weiter mit ihren Scheißaktionen. Nur arbeiten sie nicht miteinander.
Alexander: Die Führungspersonen tun so, als ob sie für alle Nationalisten sprechen würden. Das wird auch oft so wahrgenommen. Aber eigentlich haben sie keine Macht innerhalb der Szene. Die unterste Schicht der nationalistischen und neonazistischen Szene in Russland besteht aus einer Vielzahl junger Menschen, die sehr xenophob und nationalistisch sind. Sie würden gerne eine nationale Revolution auslösen oder wenigstens als radikale Partei auftreten, lassen sich aber nicht zu einer Organisation zusammenfassen.
Gerade der Höhepunkt an nationalistischer Gewalt vor einigen Jahren lässt sich darauf zurückführen, dass einige Nationalisten im Internet verkündeten, es reiche einfach, zu zweit oder zu dritt auf die Straße zu gehen, um Migranten zu bekämpfen und zu töten – ohne Anführer oder Partei, als autonome Gruppe.
Waren es vor allem diese unorganisierten Leute, die die Morde und Pogrome ausgeführt haben? Sie gingen nicht von Parteien oder Organisationen aus?
Alexander: Nein, das waren Mörder, kleine Gangs, die die Leute auf der Straße umgebracht haben. Sie sind im Internet sehr aktiv. Es gibt sehr viele kleine autonome nationalistische Gruppen.
Was ist nach dem Höhepunkt der Gewalt vor ein paar Jahren passiert? Gab es irgendwelche Maßnahmen der Regierung, außer, dass die Polizei stärker ermittelt hat? Oder unterstützt die Regierung die Nationalisten?
Alexander: Die Polizei hat das lange nicht beachtet, solange die Opferzahlen noch recht niedrig waren. Als sie dann gestiegen sind, musste sie dagegen vorgehen.
Nadezhda: Ich würde noch ein Stückchen zurückgehen. Als Putin an die Macht gekommen ist, hat er den Patriotismus als gute Sache dargestellt. Anfang der nuller Jahre gab es dann im Kreml selbst ein Projekt von Surkow, eine nationalistische Marionettenstruktur zu schaffen. Und 2004 gab es den ersten russischen Marsch, mitten im Zentrum von Moskau. Mehrere Tausend Leute sind durch die Straßen gelaufen, haben »Heil Hitler« gebrüllt und den rechten Arm gehoben, niemand hat sie auseinandergetrieben.
Alexander: Da unser Land viele Nationen hat, ist die Idee, die dahinter steckt, keine ethnische, sondern die Idee eines Volkes mit mehreren Nationen. Diese Idee kam aus dem Kreml. Deswegen wurde der russische Marsch auch erlaubt, weil eine Identifikation mit dem Land als multiethnischem Staat stattfand.
Nadezhda: Dann sind einige Organisationen aus der Kontrolle durch den Kreml ausgebrochen und haben sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen, zum Beispiel Russkij Obraz oder Slawjanskij Sojus. Russkij Obraz ist hier bedeutend, da sie einerseits ein legales Magazin herausgeben und in der Nähe des Kreml Konzerte veranstalten. Andererseits ist Nikita Tichonow, einer der Gründer der Zeitung, in den Untergrund gegangen und hat zwei meiner besten Freunde getötet (Anm.: Markelow und Barburowa). Der Kreml hat damit nichts zu tun. Aber schuld ist er dann doch, weil er es zugelassen hat, dass diese Leute überhaupt daran denken konnten, die Macht zu übernehmen. Und dass sie die Macht haben, ist auch darauf zurückzuführen. Der Kreml ist viel zu schwach, um jetzt noch reagieren zu können.
Die Regierung propagiert den Patriotismus und duldet auch einige nationalistische Parteien. Aber viele Nationalisten und Rassisten sind eigentlich gegen die Regierung und machen nun auch bei der Protestbewegung mit.
Nadezhda: Die gesamte Protestbewegung zu charakterisieren ist sehr schwierig, denn sie ist nicht einheitlich, da gibt es ganz verschiedene Menschen und Gruppen. Von ungefähr 100 000 Menschen, die auf die Straße gegangen sind, waren ungefähr 5 000 bis 10 000 Nationalisten, die auch nationalistische Flaggen dabei hatten. Es ist kein Wunder, dass sie mitmachen, weil sie natürlich hoffen, irgendeine Machtposition einnehmen zu können. Durch die mehrheitlich liberale Protestbewegung verläuft eine Konfliktlinie genau an dieser Frage: Wollen wir, um die Situation im Land zu verändern, auch mit den Nationalisten zusammenarbeiten oder nicht?
Formiert sich gerade eine Protestbewegung, die Forderungen stellt, die über transparente Wahlen hinaus gehen?
Alexander: Das Ziel der Protestbewegung sind in erster Linie gar nicht freie Wahlen, weil das in Russland sowieso utopisch ist. Das lässt der Kreml nicht zu, sonst gäbe es einen Zusammenbruch. Vielmehr ist es das Ziel, überhaupt eine Opposition zu formieren und sich nicht wieder zu zerstreiten.
Es gibt innerhalb der Protestbewegung einige Gruppen, die auch ins Parlament wollen.
Nadezhda: Am Anfang sind die Protestierenden mit der Forderung auf die Straße gegangen, die Wahlen zu annulieren. Diese Frage stellt sich gar nicht mehr, weil sie anerkannt wurden und das neue Parlament schon arbeitet. Das einzige Zugeständnis Medwedjews an die Opposition war, die Mindestprozentzahl der Stimmen für den Einzug ins Parlament zu senken und auch die Zahl der Unterschriften, die man braucht, um eine neue Partei registriert zu lassen. Doch das tritt erst in sechs Jahren in Kraft.
Russland ist keine parlamentarische Republik, sondern eine präsidiale. Die Rolle des Parlaments ist marginal. Kein Gesetz geht durch die Duma, wenn der Präsident nicht zugestimmt hat. Er hat die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen. Selbst wenn dort ehrliche Abgeordnete säßen, würde das nichts ändern, weil der Präsident immer noch die Macht hätte. Das kann sich erst ändern, wenn Russland eine parlamentarische Demokratie wird. Dafür muss Putin selbst gehen. In Russland lacht man über so eine Forderung.
Gibt es Forderungen nach einem Rücktritt?
Nadezhda: Alle fordern den Rücktritt. Aber alle haben auch Angst vor einem gewalttätigen Konflikt. Sie versuchen, ihn zu umgehen und trotzdem etwas zu verändern.