Jorge Murúa und Karol Cariola im Gespräch über die Zukunft der Protestbewegung in Chile

»Die Demokratisierung ist nicht beendet«

Bereits seit April des vergangenen Jahres protestieren Studierende, Schülerinnen und Schüler und weitere gesellschaftliche Gruppen in Chile für ein gerechteres Bildungssystem und weitergehende politische Reformen. Die chilenische Regierung unter Präsident Sebastián Piñera von der rechtsliberalen Partei »Nationale Erneuerung« kam der Protestbewegung bisher wenig entgegen. Die Proteste setzen die Regierung weiterhin unter Druck. Wie geht es 2012 weiter? Die Jungle World sprach mit Karol Cariola, der Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend Chiles (JJCC), und mit Jorge Murúa, Mitglied des Bundesvorstands des chilenischen Gewerkschaftsdachverbands CUT, über den Stand und die Zukunft der Bewegung.

Proteste gegen das Bildungssystem und für eine freie, öffentliche Bildung gab es in den vergangenen Jahren in Chile immer wieder. Was war im vergangenen Jahr anders?
Cariola: Die Proteste waren die Kumulation eines Prozesses kollektiver Mobilisierung. Sie gehen auf eine Entwicklung der Studierenden- und Schülerinnen- und Schülerproteste von 2005 zurück, mit tiefergehenden Forderungen nach einem strukturellen Wandel. Der große Unterschied zu den damaligen Protesten ist, dass wir es 2011 geschafft haben, eine Mobilisierung hinzubekommen, die sich nicht nur auf die Studierenden und Schülerinnen und Schüler beschränkt. Den Anfang machte zwar die Studierendenbewegung, aber sie schaffte es, Sektoren der gesamten Gesellschaft zu einem landesweiten sozialen Protest zu vereinen, der schließlich die aktuelle Bewegung hervorbrachte.
Es geht nicht nur um Bildung, sondern um soziale Ungerechtigkeit und Demokratie allgemein. Wie haben sich Arbeiterinnen und Arbeiter an der Bewegung beteiligt?
Murúa: Wir Arbeiter haben seit Jahren für eine Änderung des Systems gekämpft. Die Rahmenbedingungen, die die Diktatur hinterlassen hat, wurden in den 20 Jahren des Übergangs zur Demokratie nicht korrigiert, nicht einmal reformiert. Das Land wird immer noch mit der Verfassung aus der Zeit Augusto Pinochets regiert. Das restriktive Arbeitsrecht, das privatisierte Bildungssystem und das privatisierte Gesundheitssystem existieren weiterhin.
2011 haben wir erreicht, dass allen klar wurde, dass wir von diesem Modell betroffen sind und dass verschiedene Sektoren zusammen mit den Studierenden demonstrieren müssen. Die Gewerkschaften haben eigens den geplanten Generalstreik vorverlegt. So haben wir es geschafft, die gesamte Gesellschaft zusammenzuführen, um das Land für zwei Tage anzuhalten.
Das ist eine kurze Zusammenfassung, aber wir Arbeiter kämpften bereits zu Zeiten der Diktatur für mehr Rechte und mehr Demokratie. Wir wollen die Verfassung Pinochets abschaffen und fordern eine neue verfassungsgebende Versammlung. Wir kämpfen für sehr wichtige Arbeitsrechtsreformen, das Recht auf kollektive Verhandlungen, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, gegen Streikbruch, etc.
Der ehemalige Präsident Ricardo Lagos hat in einem Interview mit einer deutschen Tageszeitung vor kurzem behauptet, Chile schließe nun die Periode der Demokratisierung nach der Diktatur ab. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Cariola: Die Diktatur hat ein politisches und ökonomisches Modell hinterlassen, das die kulturelle Entwicklung unseres Landes zum Stillstand gebracht hat. Dieser Prozess der Transition ist vielmehr eine Pseudo-Transition zu einer Pseudo-Demokratie, wie wir seit ein paar Jahren sehen. Das hat zu vielen Schwierigkeiten und großer Ungerechtigkeit geführt, die sich nicht nur im Bildungssystem finden, sondern auch im Gesundheitssystem, im Arbeitsrecht, in vielen Teilen des sozialen Sicherungssystems.
Dieses überlieferte Modell wurde nicht in Frage gestellt, nicht unter der Regierung der Concertación (Mitte-Links-Bündnis, Anm. d. Red.), an der auch Lagos beteiligt war, und noch weniger unter der jetzigen rechten Regierung. Es wurde mit den gleichen Gesetzen weiterregiert. Der Prozess der Demokratisierung ist noch nicht abgeschlossen. Solange befinden wir uns immer noch im Übergang. Wir möchten eine reale Demokratie erreichen.
Wie kann man die Verfassung ändern? Was sind Ihre Vorschläge?
Cariola: Von dieser sozialen Bewegung wurde vorgebracht, dass eine tiefgehende strukturelle Reform dieses Landes bitter nötig ist. Es geht nicht nur um eine Verfassungsreform, sondern auch um eine Reform des Steuersystems oder des Wahlsystems.
Mit der derzeitigen Konstellation politischer Kräfte ist es sehr schwierig, die Verfassung zu ändern, denn man braucht eine Zweidrittelmehrheit.
Wie hat die Regierung auf die Bewegung reagiert? Ende Dezember ist mit Felipe Bulnes bereits der zweite Bildungsminister zurück­getreten.
Murúa: Diejenigen, die an der Macht sind, haben keine Zustimmung in der Bevölkerung. Sie repräsentieren sie nicht. Die beiden dominierenden Blöcke, die Rechten und die Concertación, kommen laut Umfragen nicht auf über 40 Prozent Zustimmung, doch sie sind es, die 100 Prozent der Macht in Chile innehaben. Ihre einzige Reaktion waren Bemühungen, das Modell intakt zu halten.
Wurde nicht angekündigt, mehr Geld in Bildung zu investieren?
Cariola: Es gab Verhandlungen während der Proteste, es gab einen Dialog, man brachte Vorschläge auf den Tisch. Es gab drei Vorschläge, die seitens der Regierung öffentlich gemacht wurden, aber sie waren völlig unzureichend. Denn sie schlug einzig eine Erhöhung der Investitionen vor. All die Forderungen nach strukturellen Veränderungen wurden auf ein bisschen mehr Investitionen durch den Staat reduziert.
Ihren Forderungen bezüglich des Bildungssystems konnte die Bewegung nicht durchsetzen. Aber politisch gab es schon Fortschritte in Chile, weil in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen wurde und die Mehrheit auf der Seite der Bewegung steht.
Camila Vallejo ist bei den Wahlen für die Studierendenvertretung an der Universität in Santiago de Chile nur noch auf den zweiten Platz gekommen. Es gewann ein Kandidat, der eine Zusammenarbeit mit der Mitte-Links-Opposition ablehnt und vielmehr eigene Gegeninstitutionen aufbauen will. Ist das ein Zeichen für eine Radikalisierung unter den Studierenden?
Cariola: Es ist eine soziale, keine bloße Studierendenbewegung mehr. Deswegen hängen die Entscheidungen über die in Zukunft zu treffenden Maßnahmen nicht mehr nur von einem Studierendenverband ab. Camila repräsentiert nur einen Studierendenverband von mindestens 40 in ganz Chile. Sie ist die stellvertretende Vorsitzende dieses Verbands und wird weiterhin als eine der wichtigsten Sprecherinnen der Bewegung angesehen, die nicht nur Studierende vertritt, sondern auch den Rest der Gesellschaft.
Viele haben schon 2005 und 2006 während der sogenannten Bewegung der Pinguine an den Schulen protestiert. Nun protestieren sie an den Universitäten. Ist der Protest auch eine ­Generationenfrage?
Murúa: Das ist der normale Weg des Lernens im Leben. Es ist normal, dass bei der jüngeren Generation die Angst, die durch die Diktatur Pinochets erzeugt wurde, verschwunden ist. Wir laufen nicht mehr Gefahr, als Oppositionelle entführt oder ermordet zu werden.
Welche Rolle hat ziviler Ungehorsam in der Bewegung gespielt?
Cariola: Auch wenn Chile keine Diktatur mehr ist, ist es ein Land, in dem immer noch sehr repressiv gegen soziale Bewegungen vorgegangen wird. Es gibt große Hürden für die politische Mobilisierung. Die Bewegung zeichnete sich zum Beispiel durch unangemeldete Demonstrationen oder Platzbesetzungen aus. Das alles sind Aktionen, die als illegal angesehen werden können, aber dies ist eine Generation, die nicht vor Angst gelähmt ist. Es ist vielmehr eine freie und fröhliche Generation voller Wünsche. Nicht wie die ältere Generation der achtziger und neunziger Jahre, die aus Angst vor der Diktatur meist geschwiegen hat.
Es gab viele Demonstrationen, aber auch Besetzungen von Schulen.
Murúa: Das Besondere daran war, dass sich diese Besetzungen geöffnet haben. Arbeiter und einfache Bürger konnten vorbeikommen. Dadurch haben sich neue Kommunikationsformen entwickelt.
Camila Vallejo sprach von einer vorrevolutionären Situation in Chile. Was halten Sie davon?
Murúa: Die Frage ist, was ist heute und in diesem Kontext revolutionär?
Cariola: Wir streben eine tiefgehende strukturelle Veränderung an. Wir beginnen einen revolutionären Prozess. Camila ist Aktivistin einer revolutionären Partei, ich bin bei der Kommunistischen Jugend. Wir arbeiten darauf hin und hoffen, dass der Prozess in diese Richtung weitergeht.
Ist die Stimmung in der Gesellschaft auch mehrheitlich so?
Cariola: Die Gesellschaft leitet diesen demokratischen Wandel. Wir sehen eine demokratische ­Revolution als die wichtigste sofortige Maßnahme an.
Murúa: Es ist derselbe Prozess, den Salvador Allende und die Unidad Popular begonnen haben. Wir gehen den gleichen Weg.
Aber im Moment ist es noch nicht so weit?
Cariola: Der Prozess beginnt gerade erst.
Murúa: Dieses Jahr gibt es Kommunalwahlen, nächstes Jahr Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Dann werden wir sehen, wie weit wir sind.
Es sind gerade Sommerferien. Sind schon weitere Aktionen geplant?
Cariola: Die Studierenden verlangen eine Änderung des akademischen Kalenders. Durch den neunmonatigen Streik sind viele noch mit Prüfungen und Vorlesungen beschäftigt.
2012 wollen wir ein Jahr voller Diskussion und Reflexion. Wir wollen über unser zukünftiges Vorgehen nachdenken und darüber, was wir langfristig erreichen wollen.