Das Ende der »Occupy«-Bewegung in den USA

Widerstand macht immer Spaß

Die »Occupy«-Bewegung in den USA scheint am Ende zu sein. Die Nachwirkungen sind noch nicht absehbar.

Es ist Winter in New York City. Der revolutionäre Frühling, den einige mit dem Entstehen der »Occupy«-Bewegung auch in den USA angebrochen sahen, ist vorbei. Die tiefen Temperaturen und die Räumung des Zuccotti-Parks in New York City sowie vieler anderer Protestcamps im vergangenen Jahr scheinen nur auf den ersten Blick der Grund für das Ende zu sein. Denn alle »Occu­py«-Bewegten mussten irgendwann zurück ins Seminar, zur Arbeit oder in ihre Heimatstadt. Das Ende der Euphorie verwundert nicht angesichts der Tatsache, dass die auf Vagheit und damit tendenzielle Inhaltsleere verpflichtete Bewegung ihre Energien im Wesentlichen für mühselige formale Prozesse der Entscheidungsfindung aufwendete. Wo der Idealismus schwindet, der einen durch mühsame Plena treibt, bleibt nur noch die mythische Anziehungskraft des Ereignisses. Inzwischen ist der Slogan, mit dem die Bewegung angetreten ist, zum Schlagwort und Witz geworden. »Join the 1 %. Occupy the Gym!« heißt es in der Werbung eines Fitnessstudios in Brooklyn. »Let’s occupy that table«, sagt man lächelnd beim Eintritt ins Restaurant.

Verliert eine Bewegung ihren Schwung, beginnt entweder die Zeit der Reflexion oder der Verdrängung. Beides ist derzeit in den USA zu beobachten. Während die linksintellektuelle Kulturzeitschrift n+1 unsicher ist, ob sie zum Abschied leise Servus sagen soll oder ob »Occupy« nicht doch einen qualitativen Wandel des politischen Bewusstseins in den USA eingeleitet hat, übt sich der aktionistische Teil der Bewegung in Ersatzhandlungen – »at least occupy something«. »Occupy Wall Street« war jenseits seiner gesellschaftlichen Ursachen und vagen politischen Inhalte vor allem eines: Ereignis, Event, Spektakel. Und vor allem für eine jüngere Generation von im weitesten Sinne linken US-Amerikanerinnen und -Ame­rikanern, die mehrheitlich nach dem 11. September während der Ära George W. Bushs politisiert wurde, war »Occupy« eine der ersten Erfahrungen verhältnismäßig militanten Widerstands.
Tatsächlich kam es während Demonstrationen und der Besetzung öffentlicher Räume vermehrt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, was in den USA im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich oder Italien eigentlich die Ausnahme ist. Nicht nur der tief im öffentlichen Bewusstsein verankerte Gedanke der Meinungsfreiheit und die im Republikanismus wurzelnde liberale Angewohnheit, den Staat zwar nicht zu mögen, ihn aber auch nicht als Feind zu sehen, sorgten dafür, dass in der Vergangenheit die Mehrheit aller Demonstrationen verhältnismäßig friedlich verlief, sondern auch enorm hohe Strafen für Angriffe auf Polizisten.
Wo das erhebende Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein, zu schwinden droht, muss es reinszeniert werden. So versuchten am 28. Januar Aktivistinnen und Aktivisten in Oakland und New York City, leerstehende Gebäude zu besetzen. In Oak­land kam es dabei zu schweren Ausschreitungen, das Rathaus wurde angegriffen und verwüstet, die Polizei nahm mehr als 400 Personen fest. Die Stadt hat aufgrund ihrer Geschichte – beispielsweise als ehemaliges Zentrum der Black Panthers – die wohl größte und militanteste linke Szene des Landes. Typischer für das Ende und die Nachwirkungen von »Occupy« waren daher die Ereignisse in New York. Während man in Oak­land zur Errichtung eines sozialen und politischen Koordinationszentrums aufgerufen hatte, war in Williamsburg, dem wohl hippsten Stadtteil Brooklyns, der Zweck der Besetzung eine Party. Freibier, Musik und Spektakel wurden versprochen. »Sei die Krise, die du 2012 sehen möchtest!« hieß es in der Ankündigung. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die Polizei an Ort und Stelle war. Nachdem die Beamten versucht hatten, eine Teilnehmerin der Veranstaltung festzunehmen, kam es zu Angriffen auf die Polizisten. Später begaben sich die Anwesenden gesittet auf dem Bürgersteig in die nächste Bar, wo sie mit leuchtenden Augen die Ereignisse auswerteten.

Man ist sich uneins darüber, worin die Bedeutung der »Occupy«-Bewegung nach ihrem Ende liegt. Dass wenigstens einmal Widerstand gegen irgendetwas geleistet wurde, betrachten manche schon als Erfolg. Sieht man von den Werten ab, um die es der Bewegung angeblich ging – Gleichheit, Demokratie, Gerechtigkeit –, und von dem zweifelhaften Projekt eines linken Populismus, das sich in Amerika besorgniserregender Beliebtheit erfreut, ging es vor allem um eine genuin US-ame­rikanische Mindestforderung: Repräsentation. So wurde zu Beginn der Bewegung ein Blog auf Tumblr eingerichtet, in dem die Besucherinnen und Besucher aufgefordert wurden, sich mit einer auf ein Blatt Papier geschriebenen Schilderung ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Situation abzulichten. Jedes Statement sollte mit den Worten »I am the 99 %« enden. Arbeitslos, drei Jobs und trotzdem Schulden; kein Geld, den Zahnarztbesuch zu bezahlen; unfähig, eine Familie mit drei Kindern zu ernähren; 30 000 Dollar Bildungskredit – eine Auflistung des ganz normalen Alltagselends, in dem fast jedem und jeder der gesellschaftliche Absturz droht. Nicht zufällig verband diese Inszenierung die Mittelschicht ästhetisch mit jenen Obdachlosen und ihren Schildern, die man in New York ebenso wenig eines Blickes würdigt wie in Berlin oder London. Was sich hier vollzogen habe, sei die Entstehung von »Klassenbewusstsein«, heißt es in einem Artikel in n+1. Gleichzeitig wird eingeräumt, dass noch im Jahr 2000 eine Umfrage ergab, dass 39 Prozent der US-Bevölkerung sich entweder als Teil des gescholtenen einen Prozents begreifen oder davon ausgehen, »bald« dazuzugehören. Möglicherweise wirkt das bürgerliche Glücksversprechen doch stärker, als es »Occupy« lieb ist. Die Erfüllung dieses Glücksversprechens einzufordern, nicht als amorphe Masse gegen das vermeintlich »parasitäre« eine Prozent, sondern als Subjekt, könnte die Bewegung in eine sympathischere Richtung lenken; nur wäre sie dann nicht mehr »Occupy Wall Street«.