Die Lohnpolitik der EU in Zeiten der Krise

Exportschlager Niedriglohn

Deutschlands restriktive Lohnpolitik dient als Vorbild für andere EU-Länder. Mit dem Wirtschaftsprogramm »Europa 2020« soll die Wettbewerbsfähigkeit der EU erhöht werden.

»Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen.« Neben der Dominanz der Austeritätspolitik, die Volker Kauder, der CDU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, mit diesem Diktum euphorisch kommentierte, gilt dies fast noch mehr für die restriktive Lohnpolitik, die in Europa als größte Leistung des EU-Primus gefeiert wird. Vor allem in Frankreich hat die Regierung nichts unversucht gelassen, um von Deutschland zu lernen. »Meine ganze Arbeit besteht darin, Frankreich an ein System anzunähern, das funktioniert – das deutsche System«, verkündete der französische Präsident Nicolas Sarkozy mitten im Wahlkampf in einem Fernsehgespräch. Als Vorlage dient die »Agenda 2010« der damaligen rot-grünen Bundesregierung und ihre Umsetzung durch die nachfolgenden Regierungen. »Deutschland hat in den letzten zehn Jahren hervorragende Arbeit geleistet«, meinte die damalige französische Wirtschaftsministerin und heutige Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, im März 2010. »Es hat seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Lohnkosten deutlich gedrückt.«

Auch ein neuer sozialdemokratischer Präsident François Hollande wird sich diesem Konzept entgegen seinen Ankündigungen kaum verweigern können. Längst gehören zu den Auflagen für den Zugang zu Geld aus den »Schutzschirmen« auch Vorgaben zur Lohnpolitik. Seit im April 2010 EU-Kommission, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) im »Krisenlabor Griechenland« (Detlef Hartmann) erstmals eine 25prozentige Lohnkürzung im öffentlichen Sektor durchsetzten, gibt es kein Halten mehr. In der Folge wurden in Rumänien, Portugal, Spanien, Irland und selbst in Belgien die Lohnkosten entgegen den Bestimmungen der EU-Verträge zum Thema gemacht. Ging es zunächst noch um die Löhne und Gehälter der öffentlich Bediensteten, so haben die Auflagen längst auch auf die privaten Sektoren übergegriffen. Bereits im Juni 2010 wurde die rumänische Regierung von der Troika angewiesen, »ein reformiertes Arbeitsrecht und eine gesetzliche Regelung der Tarifverhandlungen einzuführen, um die Einstellungskosten zu senken und die Lohnflexibilität zu verbessern«. In den alten EU-Ländern waren zuletzt die gesetzlichen Mindestlöhne ins Visier der Sanierer geraten, den Rest erledigt die Angst vor der Arbeitslosigkeit. Zuletzt musste Griechenland seine Lohnuntergrenze um wahnwitzige 22 Prozent auf 586 Euro monatlich kürzen.
Wenn auch teilweise nicht ganz freiwillig, so haben doch alle Regierungen im Euro-Raum letztlich gemeinsam die Grundlagen dafür geschaffen, ihre »Standorte« auf Kosten der Lohnabhängigen auch über die »Sparpakete« hinaus wettbewerbsfähig zu machen. Mit den Stimmen aller 17 Euro-Länder und von 23 der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde im März vergangenen Jahres der »Euro-Plus-Pakt« beschlossen. Sein Kern ist die »Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit« durch »eine größere Konvergenz der Volkswirtschaften« innerhalb der EU. Vor allem die Messung der Lohnstückkosten und deren Ausrichtung am geringsten Maß sollen helfen, die Ziele der »Lissabon-Strategie«, Europa zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen, endlich zu verwirklichen. Zukünftig werden die zentralen EU-Institutionen damit nicht nur über die Begrenzung der Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung wachen, sondern sich auch in die Tarifverhandlungen der jeweiligen Staaten einmischen können. Durch das »Gesetzgebungspaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung«, das Ende September 2011 vom Europa-Parlament und der EU-Kommission verabschiedet wurde, ist der bis dahin unverbindliche Pakt zudem mit finanziellen Sanktionsmöglichkeiten für den Fall ausgestattet worden, dass einem Land, das die erarbeiteten Strategien ignoriert, ein »Verlust an Wettbewerbsfähigkeit« droht.

Dieser neue Kurs folgt langfristigen Vorstellungen, die der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zuvor formuliert hatte: »Was sich gegenwärtig vollzieht, ist eine stille Revolution, in kleinen Schritten, hin zu einer stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung. Die Mitgliedsstaaten haben akzeptiert – und hoffentlich verstanden –, dass den europäischen Institutionen größere Aufsichtsbefugnisse übertragen werden.« Dieser Grundsatz findet sich auch in dem im Juni 2010 vom Europäischen Rat verabschiedeten Nachfolgeprogramm der »Lissabon-Strategie« unter dem Namen »Europa 2020« wieder. Im Zentrum dieses sehr allgemein gehaltenen Zehnjahresplans, dessen Name sicherlich nicht zufällig an die Agenda 2010 erinnert, stehen die »bessere Koordinierung der nationalen und europäischen Wirtschaft« und der »Ausbau eines weltweit wettbewerbsfähigen, nachhaltigen Industriesektors«. Neben der besseren Qualifikation der Arbeitskräfte müsse auch dafür gesorgt werden, dass »Arbeitsnachfrage und -angebot besser zueinander passen«, heißt es darin. Was damit gemeint ist, lässt sich unschwer erraten: Die Reindustrialisierung insbesondere Südeuropas könne nur gelingen, wenn die Löhne sich an denen der aufstrebenden Schwellenländer orientieren.
Wenn sich auch innerhalb der Euro-Zone das Gefälle zwischen dem ehemaligen Exportweltmeister und den Staaten mit negativer Außenhandelsbilanz in naher Zukunft nicht auflösen wird – was von der deutschen Regierung allen Bekenntnissen zum Trotz auch kaum erwünscht sein dürfte –, so bleibt ein Wirtschaftsraum mit insgesamt positiver Handelsbilanz, nicht nur wegen der geringeren Belastung der Geberländer der EU, das oberste Ziel. »Europa braucht eine neue industrielle Revolution«, forderte zuletzt in Le Monde diplomatique Laurent Carroué, Forschungsdirektor am Französischen Institut für Geopolitik. Derzeit weist kein Euro-Land einen ähnlich hohen Anteil der Industrie an der nationalen Wertschöpfung auf wie Deutschland, wo dieser fast 30 Prozent beträgt. Dass der Anteil der aus Niedriglohnländern importierten Waren an den Gesamtimporten in Europa im vergangenen Jahrzehnt von 17 auf 44 Prozent gestiegen ist, verdeutlicht für die europäischen Strategen die Schwäche der Industriepolitik in den meisten Ländern der Euro-Zone. Das versuchen sie durch die Senkung der Lohnstückkosten zu ändern.

Neu ist diese Strategie nicht. Bereits im Rahmen des Lissabon-Prozesses hatte der Europäische Rat 2001 empfohlen: »Die Sozialpartner in den Mitgliedstaaten sollten weiterhin Verantwortung zeigen und Tarifverträge abschließen, die mit den allgemeinen Prinzipien in Einklang stehen, wie sie durch die langfristigen wirtschaftspolitischen Perspektiven vorgegeben sind.« Völlig erfolglos waren die europäischen Regierungen damit nicht. Betrachtet man das Vorkrisenjahrzehnt, so wuchs das reale Lohneinkommen der abhängig Beschäftigten im Euro-Raum zwischen 1995 und 2006 durchschnittlich nur um 0,4 Prozent pro Jahr, während es in den USA um 1,4 Prozent stieg. Die Lohnquote war in den neunziger Jahren in beiden Wirtschaftsräumen noch etwa gleich hoch. Zwei Dinge stören allerdings vor allem die deutsche Seite: Erstens wuchs auch die Arbeitsproduktivität in den USA stärker als in der EU, und zweitens war die Lohnzurückhaltung vor allem ein deutsches Projekt, dem lediglich einige wenige Staaten in der Mitte und im Norden Europas folgten. So stehen den Reallohneinbußen deutscher Beschäftigter von immerhin 4,5 Prozent in diesem Jahrzehnt zweistellige Zuwachsraten in Südeuropa und bis zu 22 Prozent in Finnland gegenüber.
Die Krise hat der »europäischen Schicksalsgemeinschaft« (Angela Merkel) nun auch das Instrumentarium in die Hand gegeben, ihre Ziele noch stärker und allgemeinverbindlich umzusetzen. Dass die europäische Hegemonialmacht Deutschland dabei mit gutem Beispiel vorangegangen ist, könnte die Durchsetzung von Reformen erleichtern. Der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hob dies bereits in einem Interview mit Le Figaro im September 2010 hervor: »Dass sie (die Bundesregierungen seit 1998, A. B.) dabei besonders auf die Produktionskosten geachtet und Reformen eingeleitet haben, um die Wirtschaft flexibler zu machen, kann ihren Nachbarn als Beispiel dienen.«
Während es in den öffentlichen Debatten hierzulande zumeist um die Reformen des Hartz-IV-Pakets geht, weist Trichet vor allem auf die Arbeitsmarktreformen durch erhöhten Lohndruck und die Herausbildung eines Niedriglohnsegments mit seinen restriktiven Auswirkungen auf viele andere Arbeitsverhältnisse hin. Aber auch die Erhöhung des Rentenalters, die Verlängerung der Arbeitszeiten und die in Deutschland üblich gewordenen betrieblichen Tarifverträge werden in Dutzenden von Strategiepapieren des IWF und europäischer Institutionen immer wieder lobend hervorgehoben, was Detlef Hartmann in seinem Buch über das »Krisenlabor Griechenland« in genauer Recherchearbeit dokumentiert hat. Hartmanns Fazit lautet treffend, Kern der deutschen und europäischen Krisenpolitik sei es, »die existentiellen Zwänge der Schuldenkrise (…) zu einem Transformationsschock für Europa« durch die »Ausweitung der Logik der Agenda 2010 in den europäischen Großraum« hinein zu nutzen. Zwar hatte das Statistische Bundesamt zuletzt Kauder korrigiert und besorgt darauf verwiesen, dass in immer weniger Schulen Europas Deutsch als Unterrichtsfach angeboten werde, politisch hat Deutschland aber offensichtlich noch genügend Exportschlager auf Lager.