Das Jazzfestival in Moers

All that Jazz

In Moers ist das jährliche Jazzfestival zu Ende gegangen. Und wie immer stellt sich die Frage: Wird es auch im nächsten Jahr noch stattfinden können?

Reiner Michalke war am Ende gelangweilt und wohl auch ein wenig müde. Zumindest ließen Körpersprache und seine knappe Ansprache darauf schließen: Es mache »einfach keinen Spaß, Leute auf ein sinkendes Schiff einzuladen«, war der Satz, der rückblickend die größte Aufmerksamkeit bekommen hat. Das vermeintlich sinkende Schiff ist das Moers Festival und Michalke ist seit sieben Jahren der Gastgeber.
Seit dem ersten Tag als künstlerischer Leiter muss er vor allem Fragen über die Zukunft des Festivals beantworten, über Finanzen und Verluste – dabei würde er doch so gerne über das Programm reden: darüber, weshalb die Pianistin und Komponistin Carla Bley im Alter von 73 doch noch ihre Moers-Premiere feiern wollte, weshalb New York immer noch oder schon wieder die interessantesten Musiker hervorbringt und warum die Dortmunder Großformation »The Dorf« mit ihrem bombastischen Bigband-Sound der perfekte Opener für jedes Festival ist.
Vielleicht reicht es auch, wenn das Publikum mit Händen und Füßen abstimmt: Etwa 13 000 Gäste waren gekommen. Etwas weniger als in den Jahren zuvor, aber immer noch genug, um die Bedeutung des Festivals zu unterstreichen – vor allem wenn man bedenkt, dass mindestens 80 Prozent der gebotenen Musik für ungeübte Ohren mit dem Prädikat »gewöhnungsbedürftig« noch harmlos umschrieben ist. Highlights waren der verspielte Auftritt des Pariser Musiker-Kollektivs Radiation 10 und die freie Performance des Quartetts Rocket Science um den Trompeter Peter Evans und den Freejazz-Veteran Evan Parker.
Dass der musikalische Kontrastreichtum die Grenzen des Erträglichen bisweilen überschritt, zeigten die Abschlusskonzerte der drei Festivaltage. Zweitklassige oder in die Jahre gekommene Funk- und Soul-Bands luden in den späten Abendstunden zum Tanz. Besonders der Gruppe Defunkt, erweitert um den Gitarristen James »Blood« Ulmer, merkte man an, dass ihre Musik mittlerweile beträchtlich gealtert ist. In den frühen achtziger Jahren galt die Band noch als funky, 30 Jahre später wäre Defunkt besser auf einer Oldie-Nacht aufgehoben: musikalisch nicht besonders avanciert, für die betriebswirtschaftl­iche Bilanz aber wohl notwendig.
Der Kalkulation war auch die »Zugabe« am Pfingstmontag geschuldet: Helge Schneider lud zum »Heimatabend«. Eigentlich sollte dieser bereits im vergangenen Jahr stattfinden. Wegen eines »Burnout« sagte der Mülheimer aber kurzfristig ab. Der Protest hielt sich damals in Grenzen, zumal der Montag vor zwei Jahren aus Kostengründen outgesourct wurde und seitdem nicht mehr offiziell zum Festival gehört.
In der Regel sind Auslagerungen ein sicheres Zeichen dafür, dass es zu Ende geht: mit einem Unternehmen oder mit der Kultur. In Moers glaubten sie aber, dass sie dadurch den Untergang gerade noch vermeiden konnten. Das Programm sei komprimierter, außerdem müssten sich die Zuhörer nicht so lange auf derart schwierige Kost oder, je nach Empfinden, »Lärm« konzentrieren – in den Ohren der Mehrzahl der Moerser Bürgerinnen und Bürger ist es nichts anderes.
Der sonntägliche Pfingstausflug im idyllischen Schlosspark ist für sie ein Albtraum aus Krach, Müll, Drogen und Sex. Dabei reicht ein Blick in den Polizeibericht, um festzustellen, dass es auf dem Moers Festival friedlicher zugeht als auf jedem Schützenfest. Seit dem vergangenen Jahr wird sogar erstmals Eintritt für das Zelten im Freizeitpark verlangt – es sei denn, man besitzt eine Festivalkarte. Camper, die nur die Atmosphäre genießen wollen, müssen leider draußen bleiben oder 25 Euro bezahlen.
Dass die Security-Mitarbeiter es bei der Kontrolle nicht allzu genau nehmen, ist vielleicht auch dem alten Moerser Geist zu verdanken. Das Festival war ursprünglich ein Produkt der Achtundsechziger, des politischen und musikalischen Aufbruchs. Moers war der Sammlungsort in der Hochzeit des europäischen Freejazz. Der Bassist Peter Kowald, Saxofon-Befreier Peter Brötzmann oder Albert Mangelsdorff prägten das erste Line-Up. Später kamen Legenden wie Anthony Braxton, Steve Lacy oder Evan Parker hinzu.
Für Festivalgründer Burkhard Hennen war der Community-Gedanke mindestens genauso wichtig wie die Musik. »Das Festival war für mich immer gelebte Freiheit«, so Hennen. Vier kurze Tage der Anarchie. Als Kulturbürokraten und Ordnungspolitiker versuchten, immer mehr Einfluss auf Programm und Festivalgestaltung zu nehmen, war für Hennen Schluss. »Moers ist seiner Zeit in Sachen jugendkultureller Bildung immer noch weit voraus«, glaubt Reiner Michalke dennoch. Das, was es hier gebe, kenne er von keiner anderen Stadt in der Republik. »Nur die Moerser wissen es nicht zu schätzen«, so Michalke. Für die verschuldete Kommune zählen derzeit allerdings nur Zahlen und für viele Poli­tiker und Bürger ist Kultur immer noch Luxus – und so steht auch das Festival beinahe jährlich auf dem Prüfstand.
In der Nachbarstadt Duisburg ist man schon einen Schritt weiter. Das Traumzeit-Festival wurde für dieses Jahr abgesagt. Der künstlerische Leiter Tim Isfort hatte im März davon erfahren. Unter anderem hatte Hauptsponsor RWE seinen Vertrag nicht verlängert. Der gebürtige Moerser Isfort hatte für das Traumzeit-Festival ein Projekt mit Musikern aus Myanmar, dem ehemaligen Burma, ankündigt – es sollte eine Fortführung aus dem Traumzeitjahr 2011 werden. Als das Aus für das Festival kam, packten die Musiker ihre Instrumente ein und zogen über den Rhein ins benachbarte Moers. Vorher hatte Isfort bereits in einem offenen Brief geschrieben: »Eine preiswertere bundesweite Werbung für die Stadt Duisburg als Traumzeit gibt es nicht. Jede in Auftrag gegebene Imagekampagne würde ein Mehrfaches des Traumzeitbudgets kosten.«
Eine Analyse, die auch zu Moers passen könnte. Derzeit gibt die Stadt rund 600 000 Euro für den Jazz aus – das sind etwa 0,8 Prozent des gesamten Haushalts. Während die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP auch gerne an dem kulturellen Festival festhalten wollen, würden CDU und seltsamerweise auch die Linkspartei das Geld lieber anders verteilen und es in Straßen oder Eishallen stecken. Noch vor drei Jahren war in Moers der Neubau des Rathauses beschlossen worden. 150 Millionen Euro wurden für das Projekt veranschlagt – als Public Private Partnership mit dem Konzern Hochtief. Dafür muss die Kommune nun in den kommenden 25 Jahren monatlich etwa 500 000 Euro Miete zahlen. Das entspräche etwa sechs Jazz-Festivals pro Jahr. Ein Bürgerbegehren zur Abwahl von Bürgermeister Norbert Ballhaus (SPD) ist gerade gescheitert. Anders in der Nachbarstadt Duisburg: Sein Kollege Adolf Sauerland (CDU) musste unter anderem wegen der Love-Parade gehen.
Das Ergebnis des Entscheids wurde übrigens einen Tag nach dem Ende des Jazz-Festivals bekannt gegeben. Beim traditionellen Bürger- und Presseempfang zwei Tage zuvor war Ballhaus die Nervosität daher anzumerken. Eine Bestandsgarantie für das Festival wollte er nicht geben. »Die beste Nachricht« sei nun mal die Musik und die solle man genießen. Gut, dass ein Großteil der geladenen Gäste da schon nicht mehr zuhörte. Stattdessen träumten sie vom Fingerfood und vom Freibier und machten sich Gedanken, wie sie sich möglichst ungestört den Weg nach Hause durch die wilden Horden auf dem Festivalgelände bahnen können.
Doch es gibt Hoffnung: Die Landesregierung, sowie die Kulturstiftung NRW und der WDR wollen ihr Engagement im kommenden Jahr ausweiten. Bei der Stiftung ist eine Verdoppelung des Etats von 80 000 auf 160 000 Euro im Gespräch. Ob das Festival tatsächlich stattfinden wird, ist trotzdem noch unsicher. »Ein kleines Fragezeichen bleibt«, sagte Reiner Michalke – und wirkte dabei nicht mehr ganz so müde.